Wenn das Monatsthema „Demokratie“ heißt, darf ein Standardwerk nicht fehlen: Benoist’ Problem of Democracy (im Original: Démocratie: le problème. Paris 1985). Der Vordenker und geistiger Urvater der Identitären Bewegung Alain de Benoist geht darin in fünf etwa zwanzigseitigen Kapiteln auf die Geschichte der Demokratie ein und weshalb sie heute oft im Zeichen der Kritik steht. Ist Demokratie per se der Fehler? Benoist denkt das nicht und möchte sie, als genuin europäische Erfindung, auch nicht eintauschen. Der Titel der englischen Übersetzung ist unmissverständlicher als das französische „Demokratie: Das Problem“; denn Benoist erkennt, dass nicht die Demokratie das Problem ist, sondern ihr Fehlen. Wir haben in der heutigen Zeit nur ein falsches Bild von ihr.
Die ursprüngliche Idee der Demokratie – und was wir jetzt haben
Das knapp 100 Seiten lange Buch wurde 2011 bei Arktos verlegt und von Sergio Knipe übersetzt. Im ersten Abschnitt „The ancients and the moderns“ problematisiert de Benoist die nahezu heilige, unantastbare Natur des Begriffs ‚Demokratie’ in der heutigen Zeit. Jeder versteht sich selbstverständlich als ‚Demokrat’ – die Demokratie allein zu diskutieren bedeute den intellektuellen Selbstmord – denn die Demokratie sei ja schließlich die westlichste, modernste und damit fortschrittlichste Regierungsform des Planeten. Doch ganz abgesehen davon, dass niemand wirklich im Stande ist, den Begriff korrekt zu verwenden, sei dies nicht nur lächerlich, sondern ebenso ethnozentrisch und historisch falsch:
Democracy is neither more ‚modern’ nor more ‚developed’ than any other regime. Democratic regimes or tendencies can be found throughout history. Once more, the linear view of history here proves particularly misleading. In relation to political regimes, the very idea of progress is meaningless. (S. 14)
Die Vorstellung der Demokratie als Höhepunkt politischer Entwicklung der Menschheit sei allein durch die Geschichte Europas widerlegbar. De Benoist führt in einem weitgesteckten Umriss der Politikgeschichte Europas vor, dass seit Anbeginn des Abendlandes demokratische Strukturen in den europäischen Ländern existierten.
Die alten Griechen definierten Demokratie, nach ihrer Einführung um 500 v. Chr., durch die Abgrenzung von der Tyrannis und der Aristokratie. Sie kannten drei Bedingungen dafür: Gleichheit vor dem Gesetz, gleicher Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und Meinungsfreiheit. Hinzu kommt, dass es sich um eine direkte Demokratie handelte – jeder hatte die Möglichkeit in der Ekklesia an den politischen Entscheidungen zu partizipieren. Dies durfte ein jeder ‚Gleiche’; gleich war, wer Stadtbürger war. Und Stadtbürger war, wer von athenischen Eltern abstammte. Benoist weist darauf hin, dass das Bürgerwesen, Freiheit und Gleichheit eng miteinander verknüpft waren. ‚Frei’ und ‚gleich’ war, wer Bürger war. Und als Bürger war man selbstverständlich berechtigt, am politischen Geschehen teilzuhaben. Man war somit nicht ‚frei von’ (z.B. vom politischen Geschehen oder Verpflichtungen), sondern ‚frei zu’ – und zwar frei an der Politik zu partizipieren.
Political equality, established by law, derived from a common origin, which it also sanctioned. Only birth conferred individual politeia. Democracy was rooted in a notion of autochthonous citizenship, which intimately linked its exercise to the origins of those who exercised it. (S. 24)
In dieser politwissenschaftlichen Bedeutungswandlung der Begriffe Freiheit und Gleichheit sieht Benoist das metapolitische Grundproblem unserer Zeit. Freiheit meinte die Freiheit der Stadtgemeinschaft; also zunächst nicht Freiheit des Individuums, da individuelle Freiheit nicht ohne kollektive Freiheit möglich war. Gleich war, wer ein Bürger der Stadt war; die Rechte gingen vom Individuum als Mitglied einer Gemeinschaft aus. Das Prinzip der Gleichheit war somit nicht ein universelles Abstraktum, das für alle Menschen als Individuen gleich gilt, sondern folgte logisch aus dem Geburtsrecht, der Abstammung, eines Atheners. Wenn Liberale also von ‚wahrer Demokratie’ reden, dann sicherlich nicht vom historischen antiken Vorbild. Und diese Auffassung steht in Kontrast zu allen Modellen liberaler Demokratie der Moderne beziehungsweise des Westens. Die folgende Stelle fasst kompakt zusammen, wo Benoist den Unterschied und somit das ‚Problem’ sieht:
Ancient democracy was communitarian and ‚holistic’, whereas modern democracy is primarily individualistic. Ancient democracy defined citizenship by one’s origin, and gave citizens the opportunity to participate in the life of the city. Modern democracy organises atomised individuals into citizens, primarily viewing them through the lens of abstract egalitarianism. (S. 28)
Wenn nicht unsere Demokratie – was sonst?
Alain de Benoist zu lesen fordert, aber schmeichelt auch den Intellekt; er fragt nicht nach der ‚besten Regierungsform’, er hinterfragt das Fragen nach der ‚besten Regierungsform’. Denn es ist eine sinnlose Frage, da kein System existieren kann, das zu allen Zeitpunkten, an allen Orten und Umständen immer das optimale ist. Es gibt darüber hinaus unzählige Punkte, die dagegen sprechen – für Alain de Benoist sind das vor allem die Entstehungsbedingungen: Die Demokratie ist tief in der europäischen Politik- und Institutionsgeschichte verwurzelt; die liberale Demokratie mit judäochristlichen Moral und der Aufklärung verbunden. Also im Namen von was, so Benoist, sollen wir in der Dritten Welt dieses System einführen? Mittlerweile ist es jedoch schon so weit, dass die Demokratie nicht mehr als das inwendige Heilsversprechen angesehen wird, sondern meist nur noch als das ‚am wenigsten schlechte“ System.
Wir stehen heute vor dem beeindruckenden Zustand, dass wir vor die Wahl zwischen ‚Demokratie oder Diktatur’ gestellt werden. Dieser populistische Gedanke entsteht aus dem Glauben, dass Freiheit d a s herausragende Kennzeichen der Demokratie sei. Aber das sei schlicht und ergreifend falsch. Tatsächlich war ‚Freiheit’ in den Regierungen der europäischen Geschichte überwiegend miteinbegriffen. Es sei ein Fehlschluss zu behaupten, dass Demokratie das Gegenteil der Diktatur sei und ‚fehlende Demokratie’ unweigerlich zur Diktatur führen müsse; Alain de Benoist seziert diese irrige Annahme über viele Seiten anhand zahlreicher Beispiele aus der europäischen Geschichte und widerlegt sie durchgehend. Man denke nur an die Französische Revolution: Nach der Erklärung der Bürger- und Menschenrechte folgte ein Massenmorden und der Genozid in der Vendée.
Im nächsten Schritt lässt Benoist die Kritiker der Demokratie zu Wort kommen und macht darauf aufmerksam, dass ihre Argumente alle am wesentlichen Problem moderner – liberaler – Demokratie vorbei gehen würden. Das eigentliche Problem liegt in dem Umstand, dass ‚liberale Demokratie’ ein weltanschauliches Oxymoron (Gegensatz) darstellt:
Democracy is first (…) a form of power; as such, it implies authority. Liberalism is a doctrine concerned with the limitation of power (…). Democracy is a form of government (…); liberalism, an ideology for the restriction of all government(…). Democracy is based on popular sovereignty; liberalism, on the rights oft he individual. (S. 45)
Der Liberalismus und das Erbe der Aufklärung gehe vom Individuum aus, womit der Wille der ‚Masse’ der Summe der Interessen von einzelnen Individuen entspreche. Die Rechnung gehe aber nicht auf; ein politischer Wille kann nur von einer ‚Masse’ ausgehen, wenn sie einer Summe an Menschen entspricht, die durch ein gemeinsames Bewusstsein – eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Vision – verbunden seien; also einem Volk. Der Wille kann nur vom Volk ausgehen und die liberale Demokratie widerspricht dieser Erkenntnis.
Gemeinwillen und Mehrheitsentscheidung
Im dritten Kapitel wird es staatstheoretisch; Benoist beginnt mit der Analyse der möglichen Systeme repräsentativer Demokratie und kommt zu dem Ergebnis, dass in keinem repräsentativen Modell eine Volkssouveränität möglich ist. Im nächsten Schritt widmet er sich den Begriffen des Gemeinwillens („general will“) und der Mehrheitsentscheidung. Der Gemeinwille sei durch das Gesetz der Mehrheit („law of majority“) definiert, was nichts anderes sei als die Hälfte eines Ganzen plus Einer. Der Volkswille könne also nicht durch einen – zumindest so definierten – Gemeinwillen ausgedrückt werden, denn: „Can the will of a part of the people, however numerous, be regarded as the general will oft he people?“ (S. 61). Hinzu komme der Umstand, dass der Wille der Mehrheit nicht immer ein demokratischer sein muss – es kann sich sogar ins Gegenteil kehren. Darin sieht Benoist mitunter den Grund, weshalb Politiker heutzutage in Europa bei Entscheidungen in den meisten Fällen die Bevölkerung ungefragt lassen. Man könne nicht sagen, ob nun, in einem bestimmten Fall, der Wille der Mehrheit ein ‚guter’ oder ‚schlechter’ sei.
Die organische Demokratie
Im abschließenden Kapitel widmet sich de Benoist der Frage nach einer möglichen Form der Demokratie. Wenn liberale Prinzipien den Grundsätzen der Demokratie widersprechen, die moderne, westliche Demokratie als Möglichkeit also wegfällt, wie müsste dann eine Demokratie aussehen? Die meisten bedeutenden frühen Staatstheoretiker waren der Meinung, dass eine Regierungsform an die Größe des Landes und seiner Bevölkerung angepasst sein müsse – in unseren heutigen Nationalstaaten Demokratie also gar nicht möglich sei. De Benoist erklärt, dass die heutigen liberalen Demokratien streng genommen keine sind, da der konstruktive Dialog zwischen Wählern und Gewählten weitgehend fehlt. Die politischen Parteien würden demnach nicht danach streben, ihre Handlungen an einem Gemeinwillen anzupassen um zu einem Konsens zu gelangen, sondern würden einzig versuchen, ihre eigene Machtposition zu halten. Dieser und viele andere Aspekte liberaler Demokratie sind für de Benoist der Grund für die sinkenden Wählerzahlen – ein Umstand, der den Abstand zwischen Wählern und Politikern noch weiter vergrößert. Daher müsse man das Modell der direkten Demokratie der alten Griechen auf die größeren, heutigen Nationalstaaten anpassen: „Against liberal democracy and tyrannical forms of ‚popular democracy’, we should return to a conception of popular sovereignty based on the historical sources of genuine democracy.“ (S. 97)
Durch eine stärkere politische Partizipation, durch regelmäßig durchgeführte Referenden, soll die Identifikation der Bürger mit ihrem Staat wachsen und die Bürger sollen so zur Gemeinschaft werden. Die politische Teilnahme soll als Teilnahme am gemeinsamen Schicksal verstanden werden. Weitere Punkte nennt de Benoist (leider) nur stichwortartig: „Decentralisation, the delegating of responsibilities, retroactive consent and plebiscites“ (S. 97). Dabei darf die Demokratie nicht auf entwurzelten Individuen basieren, sondern auf Bürgern eines gemeinsamen Volkes. Die Bürger erhalten ihre Freiheit(en) aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Volk. In dem Sinne nennt Benoist das Modell „Organische Demokratie“. Die Idee ist aber nicht genuin von de Benoist selbst und auch nicht neu; er weist im bescheidenen Duktus darauf hin, dass die organische Demokratie eigentlich den Theorien der Krausisten entspricht – es sollen auch Görres, Schleiermacher und Schelling in diese Richtung gedacht haben. Da die sozialistischen Theorien der Krausisten im deutschsprachigen Gebiet praktisch nicht rezipiert worden und auch keine einschlägigen politikwissenschaftlichen Werke dazu erhältlich sind, ist es schwer, diese Behauptung von de Benoist an dieser Stelle zu überprüfen.
Resümee
Sein Buch hat nach 30 Jahren nichts an Aktualität verloren. Er sagte ganz richtig voraus, dass der entscheidende Punkt darin liegen würde, in Richtung direkter Demokratie zu gehen und mittels (durch Dezentralisierungsmaßnahmen auf Regionen zugeschnittene) Referenden das Volk stärker in politische Entscheidungen einzubinden. Dieser Schritt ist gerade heute wichtig: In einer Zeit, in der politische Entscheidungen getroffen werden, welche fast durchgehend entgegen der Meinung der Mehrheitsbevölkerung stehen. Der Schluss seines Büchleins enttäuscht jedoch: konkrete Ansätze und wie eine organische Demokratie politisch umgesetzt werden könnte, fehlen leider. Nichtsdestotrotz bildet dieser Lobgesang auf die antike Demokratie den Grundstein für unser Modell: die identitäre Demokratie.
Es gab auch eine deutsche Ausgabe: „Demokratie: Das Problem“, 1985 bei Hohenrain erschienen. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, aus dieser zu zitieren….
Das ist uns klar, nur ist die Hohenrainausgabe 1) Kaum noch erhältlich 2) Enthält inhaltliche Fehler, die schon bei der Übersetzung des Titels anfangen.
Der Titel ist völlig korrekt übersetzt. Original:
Démocratie : le problème, Labyrinthe, 1985