Wenn über einen Film geschrieben wird, möchte man als Leser zunächst wissen, „worum es geht“. Ob die Besetzung brilliert, die Umsetzung überzeugt oder die Einstellungen atmosphärisch sind, ist für’s Erste zweitrangig. Was interessiert, ist der Plot – die Geschichte. Oder das Thema. Doch bei der millionenschweren, deutsch-österreichischen Produktion von Lars Kraume, der Geschichte einer Studentin auf der Suche nach einem „festen Platz“ innerhalb eines kollabierenden Europa, ist es kaum möglich, dies pointiert zu formulieren. Die Bezeichnung Dystopie wurde im Zusammenhang mit dem 2010 uraufgeführten Film oft bemüht, um rezensionstechnisch in etwa die Marschrichtung vorzugeben; trifft es jedoch nicht ganz. Die politischen Zustände der Rahmenhandlung sind dafür viel zu greifbar, viel zu nah, die skizzierten Zerfallserscheinungen viel zu realistisch. Das beunruhigende Moment für den Zuseher: Sie spielen in einer nicht ganz fernen Zukunft. Und tatsächlich ist das, was fasziniert, die Eröffnungssequenz und die überaus realistische Unmittelbarkeit der politischen Zustände, die in der Geschichte entfaltet und weitergetrieben werden. Gegen Ende des Films kulminieren scheinbare Sicherheiten, unsichere Verbindungen und abgeschlossene Bekanntschaften in einander und fallen in sich zusammen. Und das mitten in Tirol. Aber alles der Reihe nach.
Europa versinkt im Chaos
Die Eingangsszene: 15. November 2020. Eine junge Frau mit Kind in einem Bus. Draußen; Rauch, Verwüstung, Elend, Flugschiffe. Die Stimme aus dem Off klingt wie die poetische Umgestaltung einer langweiligen Eingangserzählung.
„Sie sagen, dass es in den kommenden Tagen sehr kalt werden soll. Besonders dort wo mein kleiner Sohn Johann und ich hinfahren, in die südlichen Alpen – außerhalb der Grenze, die wir jetzt als Europa verstehen.“
Doch die nächsten Bilder verflüchtigen sofort den Eindruck eines gemütlichen Familienausfluges; die Flugschiffe fliegen in die entgegengesetzte Richtung, der Bus hat nichts Gemütliches ebenso wie die dunklen, zerlumpten Gestalten am Rande der Straßen, die sofort als Flüchtlinge zu erkennen sind. Alles südlich dieser Grenze ist nach dem Zusammenbruch der Europäischen Union dem Chaos verfallen, der Rest Europas hat sich „eingemauert“, um sich vor dem Ansturm afrikanischer Flüchtlinge zu schützen. Schon hat man als Zuseher im Jahr 2015 den bitteren Geschmack der politischen Gegenwart auf der Zunge. Noch bevor man diesen schlucken kann, wird man von 2020, dem Jahr der filmischen Handlung, acht Jahre zurückversetzt und bekommt die Ursachen dafür geliefert:
Etwa im Jahr 2012 bricht ein Krieg um die saudischen Ölquellen aus, die USA interveniert (der Zuseher muss daraufhin kurz lachen), es kommt zum vierten Golfkrieg. Europa leidet fortan unter Versorgungsengpässen und in Afrika und anderen Staaten herrscht Nahrungsmittelknappheit. Eine wirtschaftliche Rezession und eine allgemeine Verunsicherung setzen ein.
Acht Jahre zuvor
Man erwartet sich an dieser Stelle, dass der Film in die Richtung weitergehe, den Krieg und die Begleitumstände skizziere – doch es wechselt der Fokus der Geschichte. Die erste Stunde des Films einnehmend, werden die zerrütteten und kaputten Familienverhältnisse der Protagonistin Laura (Bernadette Heerwagen) und ihrer Schwester (Johanna Wokalek) geschildert. Laura ist Philosophiestudentin, ihre Schwester mit dem draufgängerischen Studenten Konstantin zusammen. Diese Schlüsselfigur wurde meisterlich von August Diehl besetzt, der zuletzt 2014 im Akademietheater in Wien und 2012 bei den Salzburger Festspielen zu sehen war. Obwohl es zusehends wirtschaftlich ungemütlicher wird, könnten die beiden Schwestern aufgrund ihres vermögenden Vaters recht sorgenfrei leben. Doch der Bruder Philipp ist labil, das Philosophiestudium Lauras bei Bewerbungsgesprächen nicht hilfreich und Konstantin scheint alles in allem nicht richtig hineinzupassen und den Familienfrieden zu stören. Die widersprüchlichen Beziehungen treten zu Tage, als der mächtige Vater Tochter und Schwiegersohn aus der Untersuchungshaft freikaufen muss, nachdem diese, mit anderen politischen Aktivisten, eine politische Gesandtschaft zu stürmen versuchten. Die pazifistischen Ambitionen der jungen Familienmitglieder stoßen dabei politisch indirekt gegen den Vater, der ein internationales Energieunternehmen besitzt – eine Anspielung auf die Bobo-Kinder der 68er-Bewegung tritt hier merklich augenzwinkernd hervor.
Ordnung und Aufbau
Im weiteren Verlauf verdichtet sich der Plot in ein Gitter von tragischen und schwierigen Beziehungen, und die Last unzählig eingeschobener Allgemeinplätze lastet auf der Schulter des Rezensenten, die eine weitere Skizzierung des Handlungsverlaufes nahezu unmöglich machen, ohne eine detailgetreue Nacherzählung zu liefern. Eine Liebschaft, eine Terrororganisation, eine Totgeburt und der völlige Zusammenbruch der sozialen und politischen Verhältnisse folgen und verwirren sich dicht bis zur Rückkehr des Plots in die Gegenwart (Basiserzählung), der Anfangssequenz im Bus. Ähnlich erzähltheoretisch ‚klassisch’ wie die den Film fast ausfüllende Analepse (Rückblick) zu Beginn der Geschichte gestaltet sich die Basiserzählung, die nämlich zugleich Anfang und Ende des Films markiert. Obgleich man als Zuseher den Eindruck bekommt, dass die Geschichte, innerhalb der Analepse, die Form eines klassischen Theaterstücks aufweist – eine genau berechnete monotone Abfolge von Aufzügen mit Zeitsprüngen und wohlplatzierten Höhepunkten – rückt sich die ‚Story’ in die Nähe des Epos, wie einer Ilias, wenn an die Anfangssequenz sogleich der Schluss der Geschichte folgt und alle Stränge nochmals zusammenlaufen. Der Zuseher glotzt schließlich mit offenem Mund und großem Fragezeichen im Gesicht den Abspann an.
Kritik
Als identitärer Zuseher kann man sich nicht verwehren, die dystopische Rahmenhandlung auf eine politische Stoßrichtung oder einen moralischen Impetus abzusuchen. Doch gestaltet sich eine Deutung der in dem Film skizzierten Zukunftsvision schwierig. Kraume versteht es, sich mit diesem Film von politischen Interpretationen und Vereinnahmungen zu entheben. Einzig der Aspekt des Rohstoffproblems und der Energieerhaltung erweist sich wie ein moralischer Fingerzeig.
Als Kritik ist zunächst der kleine Drehbuchfehler – oder die kleine Ungereimtheit – anzumerken, dass Europa sich, laut Stimme aus dem Off, „einmauere“, die Zustände in Berlin im Jahr 2016 (also vier Jahre vor Beginn der Basiserzählung) aber bereits völlig aus allen Rudern laufen und eine politische Ordnung praktisch nicht mehr besteht. Der Interpret wünscht sich an dieser Stelle eine Erklärung, was dann mit dem „Chaos“ südlich der „neuen“ europäischen Grenze gemeint sein soll. Auch der Umstand, dass eine Demonstration nahtlos in eine ganzheitliche Verwüstung aller politischen und sozialen Verhältnisse übergeht, erscheint unrealistisch und zu bemüht. Glaubwürdig (und faszinierend) hingegen ist die anschließende Darstellung eines gesellschaftlichen Zustandes, der weder einer Anarchie, noch einer anderen bekannten politische Form entspricht; eine komplett entwurzelte, hoch kriminelle, sich selbst verwaltende, womöglich kommunitaristische, multikulturelle – oder akulturelle – Zwei-Klassen-Gesellschaft. So stellt sich der Drehbuchautor und Regisseur Lars Kraume Berlin ‚nach dem Zusammenbruch’ vor. Und dieses Bild bleibt hängen, wie das pelzige Gefühl auf der Zunge nach einem Schluck schweren Rotweins. Raspails Heerlager der Heiligen vermischt sich in dieser Dystopie mit einem Golfkrieg und der großen Energiefrage. Einzig der von ihm, durch die Protagonistin Laura, aufgeworfenen Frage nach dem Wert und der Möglichkeit eines ‚festen Platzes’ innerhalb einer zerbrechenden Gesellschaft, vermag Kraume uns keine Antwort zu geben.