In Europa herrscht Verwirrung; Verwirrung über den sogenannten Eurasismus, die Eurasische Bewegung mit ihrem Wortführer Alexander Dugin und mögliche imperialistische Hintergedanken.
Dazu tragen linke, und rechte Gegenpropaganda aber auch fehlende bzw. sich widersprechende Texte von eurasischer Seite ihren Teil bei.
Im Arktos Verlag erschien nun Anfang des Jahres eine englischsprachige Zusammenstellung der wichtigsten eurasischen Texte, die Abhilfe schaffen soll.
Neben kürzeren Abschnitten zur Vierten Politischen Theorien (4PT) und zur „Global Revolutionary Alliance“ macht dem Titel nach die Beschäftigung mit dem Eurasismus den Löwenanteil aus.
Eurasismus und Neo-Eurasismus
Den Anfang macht ein Artikel zur Geschichte des historischen Eurasismus und der modernen Eurasischen Bewegung.
Der historische Eurasismus geht auf verschiedene zum Teil voneinander unabhängige russische Denker zurück, die in Folge der Russischen Revolution 1918 das Land Richtung Westeuropa verließen. Ihre Ideen konnten aufgrund historischer Gegebenheiten und der oft esoterisch angehauchten Gedankenwelt aber keine sonderlich große Wirkung entfalten. Der Neo-Eurasismus Dugins bleibt ohne Kenntnis dieser grundlegenden Gedanken aber nicht erklärbar, denn Dugin nimmt diese frühen eurasischen Gedanken auf und hievt sie in die moderne Welt.
Dadurch, dass es sich bei den Gründervätern des Eurasismus um in Westeuropa lebende Russen handelt, die in Disziplinen wie Ethnographie, Philosophie oder Linguistik geschult waren, kannten die frühen Eurasier beide Seiten genau. In ihrem westlichen Exil entwickeln sie eine starke Ablehnung dieser Zivilisationsform, die sie als „römisch-deutsch“ (→ säkularisierter Katholizismus / Protestantismus) betiteln und setzen sie in strikte Opposition zur russischen; sowohl in geistiger als auch in machtpolitischer Hinsicht.
Dieses Weltbild hatte aber bereits damals eine anti-universalistische Dimension:
„Kein einzelner Staat oder Region hat das Recht für sich in Anspruch zu nehmen Standard für den Rest zu sein. Jedes Volk hat seine eigene Entwicklungsform, Zeitalter und „Vernunft“ und verdient nach seinen eigenen internen Kriterien verstanden und beurteilt zu werden.“1
Letzten Endes scheiterte diese Form des Eurasismus aber an Sektierertum und der sich stabilisierenden Sowjetunion.
Das erklärt ihn aus Sicht der Eurasier aber nicht für endgültig gescheitert:
Während der Eurasismus als Vision für ein kommendes Russland seinen Anfang zu Beginn des sowjetischen Imperiums gemacht hat, kommt er zu dessen Ende nämlich mit dem Neo-Eurasismus in neuer Gestalt wieder herauf.
Geschichte des Neo-Eurasismus
In rechten und konservativen Kreisen um seinen großen Vordenker, Alexander Dugin, floriert die Idee eines neuen Eurasismus schon seit den 80ern des vergangenen Jahrhunderts. Damals war man noch strikt antikommunistisch gesinnt. Diese Haltung wird nach dem endgültigen Zerfall der UdSSR und dem darauffolgenden Einfluss der europäischen Neuen Rechten revidiert: Die frühen 90er sind in Russland das Zeitalter des Nationalbolschewismus.
Bis zum Ende der 90er wird das Konzept in seinen Grundzügen theoretisch untermauert; die Zahl der eurasischen Publikationen steigt immens an.
Mit der ersten Amtszeit Wladimir Putins zur Jahrtausendwende ist die eurasische Bewegung auf einem ersten Höhepunkt. Von einer mitunter obskuren oppositionellen Sekte ist sie zur staatsprägenden Idee aufgeschwungen. Man sichert Putin schließlich 2001 uneingeschränkte Unterstützung zu. Zugleich wird die religiöse Komponente des Eurasismus wichtiger: Kontakte in islamische und jüdische Kreise werden geknüpft.
Heute steht der Neo-Eurasismus kurz vor seinem Zenit und greift von Russland aus auf andere Staaten über. In allen wichtigen europäischen und asiatischen Ländern entstehen Ableger oder unter Einfluss des Eurasismus stehende politische Gruppen.
Die Positionen der Neo-Eurasier von heute unterscheiden sich nur unwesentlich von denen der frühen, nehmen aber zum Teil andere Formen an. So wird beispielsweise die Kritik der „römisch-deutschen Zivilisation“ im Sinne des deutschen Nationalbolschewisten Ernst Niekisch abgewandelt und zugleich aber intensiviert.
Die „westliche Welt“ wird wie von der europäischen Neuen Rechten in zwei Teile gespalten: einen transatlantischen und einen kontinental-europäischen. Während jener in seiner jetzigen Konstitution als Feind Eurasiens gesehen wird (→ Land-/Seemacht), wird Europa zum neutralen Block, der „- mit einigen Vorkehrungen – in das eurasische Projekt integriert werden kann“2.
Von Lissabon bis Vladivostok
Und damit wären wir auch schon an der problematischen Stelle angelangt:
Mit den Wertvorstellungen und den philosophischen Maximen hinter dem Neo-Eurasismus werden sich wohl auch die allermeisten Identitären anfreunden können. Der eine mehr, der andere weniger. Die größte Streitfrage aber ist wohl die nach der territorialen Ausdehnung Eurasiens. Bezeichnet Eurasien Europa und Russland, Osteuropa und Russland, Russland und die GUS-Staaten, … ?
Diese Frage kann auch „Eurasian Mission“ nicht endgültig beantworten. Es werden lediglich verschiedene Ansätze vorgestellt, man legt sich aber nicht explizit fest. So ist z.B. davon die Rede, dass Eurasien auch mit „Russisch-Eurasien“ übersetzt werden könne3. Hierunter ist der Russische Kulturkreis, also das heutige Russland, Weißrussland, Kasachstan, die Ukraine und die Staaten Zentralasiens zu verstehen. Eurasien wird nach diesen Konzept also als Gegensatz zu Westeuropa gesehen, was sich mit den alten eurasischen Ideen decken würde. Dabei ist Eurasien weder Europa noch Asien, sondern vielmehr eine eigener Kulturkreis (engl. civilization), der Elemente beider Kulturkreise in sich vereint und organisch neuinterpretiert.
Die Form des Eurasismus, die heute auch in russischen Regierungskreisen Popularität genießt, aber geht in erster Linie auf den wallonischen Nationalbolschewisten Jean Thiriart zurück, der bereits vor Jahrzehnten von Eurasien als „Groß-Europa“ sprach, das sich unter einer Formel subsumieren lässt, die bereits als geflügeltes Wort gelten kann: „von Lissabon bis Vladivostok“4. Dies ist nach Dugin die erweiterte Bedeutung von Eurasien, d.h. ein über den Kulturkreis hinausgehender Kontinentalblock, unter dem eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Europa und Eurasien zu verstehen ist. Dennoch bleibt folgende Aussage festzuhalten:
„Die Begriffe „Eurasismus“ und „Eurasien“ enthalten ebenso einige Unklarheiten, denn sie gehören zu einem neuen politischen Sprachgebrauch und intellektuellen Kontext, welcher sich gerade erst hervortut. Die eurasische Idee stellt einen sehr aktiven, dynamischen Prozess dar. Dessen Bedeutung wurde im Laufe der Geschichte immer klarer, aber muss auch weiterhin entwickelt werden.“5
Daher wird schnell von rechter Seite der Verdacht laut, dass eben diese nur aus rein strategischen Gründen geschieht und es sich bei Dugins Neo-Eurasismus lediglich um eine intellektuelle Untermauerung für einen neuen russischen Imperialismus oder gar um einen Aufguss des alten sowjetischen Universalismus. Die Predigt von der multipolaren Welt sei bloß eine schöne Geschichte wie einst das Souveränitätsangebot Stalins an die Bundesrepublik Deutschland.
Dugin entgegnet dem, dass es sich lediglich um eine Alternative zur unipolaren Wertordnung unter Führung der USA handelt. Der Chancengleichheit halber sei an dieser Stelle aber mal die geläufigste Variante von Dugins „multipolarer Welt“ zitiert:
„- Euro-Afrikanische Zone, inklusive dreier Großräume: Europäische Union, islamisch-arabisches Afrika, sub-saharisches (Schwarz-)Afrika
– Asiatisch-Pazifische Zone, inklusive Japan, die Länder Südostasiens und Indochinas, Australien und Neu-Seeland
– die Eurasisch-Kontinentale Zone, inklusive vierer Großräume: Russland und die GUS-Staaten, die kontinental-islamischen Staaten, Indien und China
– die Amerikanische Zone, inklusive dreier Großräume: Nordamerika, Mittelamerika und Südamerika“6
Hier wird Europa zumindest noch in einem von Eurasien getrennten Block gesehen. Uns wird allerdings aus schleierhaften Gründen Afrika als Klotz am Beim angehangen. Hier gilt es von Seiten der Eurasier also in jedem Fall noch zu konkretisieren, damit man sich als Europäer auch ein wirkliches Bild dieser Idee machen kann.
Minuspunkte fährt dieses Buch aber bei der Auswahl der Texte ein. Bei „Eurasian Mission“ handelt es sich um ein aus unterschiedlichen Quellen und verschiedenen Schaffensphasen Dugins zusammengeklaubtes Kompendium. Dem Herausgeber John Morgan gelingt es leider nicht immer, diese in eine kohärente Ordnung zu bringen.
Man merkt einigen der Texte deutlich an, dass sie vor anderen Werken Dugins – wie etwa der 4PT oder „Konflikte der Zukunft“ – verfasst worden sind. Mitunter lassen sich sogar, wie bereits erwähnt, Widersprüche innerhalb der Sammlung finden. Hier ist also vom Leser selbst noch ein wenig Denkarbeit gefordert.
Dennoch ist „Eurasian Mission“ sowohl für Anhänger als auch Feinde des Eurasismus mit Gewinn lesbar: Es stellt eine gute Zusammenstellung dar, die auch vom Autor selbst autorisiert ist.
Man kann es also als Dugins offizielles geopolitisches Programm lesen und anhanddessen wirklich konkrete Kritikpunkte formulieren (oder eben auch nicht).
Ob die angefügten Artikel, die sich dezidiert um „The Fourth Political Theory“ und „Global Revolution“ drehen, auch Teil einer Einführung zum „Neo-Eurasismus“ sein sollten, ist wohl Geschmackssache. Der große Vorteil darin liegt natürlich, dass auch für Einsteiger, die ja die Zielgruppe einer solchen Einführung sind, eine Vorstellung davon bekommen, in welchem Kontext der Neo-Eurasismus steht. Nichtsdestotrotz trägt dies aber auch zu einer weiteren Vermischung dieser Konzepte bei.
Eurasismus und Identitäre Bewegung
Die Beziehung zwischen Dugins Ideenwelt und der Identitären Bewegung ist bis heute ebenso schwammig und sollen an dieser Stelle wenigstens grob umrissen werden.
Die Identitäre Bewegung hat zumindest im deutschsprachigen Raum die 4PT in ihr Denken aufgenommen und man muss auch ganz klar festhalten, dass die 4PT ein spätes Produkt im Laufe von Dugins intellektueller Laufbahn darstellt und ihr sein Neo-Eurasismus vorausging. Eine entsprechende Färbung ist demnach nicht zu leugnen. Dugin selbst schreibt sogar, dass die 4PT als Weiterentwicklung der philosophischen Gedanken seines Eurasismus zu sehen ist. (Am Rande bemerkt ist die 4PT aber auch nicht als fertige, dogmatische Ideologie anzusehen, sondern als richtig gestellte Frage.)
Grundsätzlich gilt, dass die positive Bezugnahme auf einen bestimmten Aspekt eines Denkers nicht gleichzeitig das gesamte Gedankengebäudes desjenigen ebenso eingemeindet. Anhänger der 4PT zu sein, bedeutet nicht gleichzeitig auch dem Eurasismus zu folgen. Die beiden Konzepte harmonieren selbstredend gut miteinander, sind aber nicht deckungsgleich und müssen daher voneinander klar getrennt werden.
Der Eurasismus ist natürlich auch denkbar im Rahmen der identitären Nationalismus-Kritik, aber nicht die einzige mögliche Alternative. Guillaume Fayes Eurosibirien, das besonders innerhalb der französischen Génération Identitaire Popularität genießt, kann hier ebenso aufgeführt werden, wie jedes andere Modell, das der identitären Trias von Region – Nation – Europa gerecht wird.
Erteilen wir zum Abschluss noch einmal Dugin selbst das Wort:
Anm.: Die Zitate folgen einer inoffiziellen, z.T. kursorischen Übersetzung des Rezensenten.