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Neofolk – Die kulturelle Vision eines Europas der Vielfalt (2)

Die Geschichte der Neofolk-Musik lässt sich in mehrere Phasen aufteilen. Der maßgeblichste Ursprung ist in England bei der sogenannten „Industrial Culture“ und im englischen Post-Punk zu suchen. Weitere wichtige Impulse gingen später natürlich auch von Deutschland, Österreich, Italien, Osteuropa und den USA aus.

Geschichte des Neofolk

Die „Industrial Culture“ war eine radikale Kunstbewegung der späten siebziger und frühen achtziger Jahre. Heute gilt sie vielen als die Bewegung, die die Versprechen des Punk wirklich einlöste: Radikale Kritik an gesellschaftlicher Doppelmoral, Kritik an den Regeln des Musikgeschäfts, „Kritik an den herrschenden Bedingungen von Wahrnehmungs- und Informationsstrukturen, auf deren Grundlage sich die Wirklichkeitserfahrung von Menschen formt“1, zu üben. Industrial war somit eine Herangehensweise, weniger ein musikalischer Stil, wenn auch Industrialprojekte, zu nennen wären wie NON, WHITEHOUSE und andere, welche vorzugsweise mit den Mitteln des „Krachs“ arbeiteten.

Bereits hier könnte eine Parallele zur späteren Neofolk-Musik auffallen, und zwar bei dem Vorrang der Idee über die Wahl der musikalischen Mittel. Tatsächlich: Bei den frühen Neofolkprojekten handelt es sich um einen Freundeskreis von Musikern, welche alle dem kreativen, geistigen Umfeld dieser „Industrial Culture“ bzw. den Ausläufern des Punk entstammten. Radikal änderte sich allein die Musik. Das lyrische Themenfeld verlagerte sich etwas bzw. passte sich zum Teil der sanfter gewordenen Musik an. Zu wichtigen Themen wurden Volksweisen, die Magie der Runen und Strömungen des modernen Okkultismus.

Man kann die Hinwendung einiger Projekte wie CURRENT 93 und teilweise COIL vom Industrial zur sanften Folklore als historisch erste Phase des Neofolks verstehen. Eine zweite Phase der Neofolkgeschichte beginnt dort, wo der Industrial-Ursprung gewissermaßen links (oder rechts?) liegen gelassen wurde, dort, wo auf der Hinwendung zum Folk aufgebaut wird und die noch in ihrer Haltung Industrial-geprägte Folklore einem neuen romantischen Ursprung zugeführt wurde. Gemeint sind vor allem deutsche und italienische Projekte wie ERNTE, FORSETI, ORPLID, oder ARGINE und CAMERATA MEDIALANENSE, die das Wagnis eingingen, die Transformation zu einer neuen Form der Volksmusik zu vollenden, indem sie z.B. die noch Industrial-typischen dissonanten Elemente in der Musik weiter vernachlässigten und die auf die Ursprünge verweisenden englischen Songtexte durch Lyrik in eigener Landessprache ersetzen.

Es versteht sich von selbst, dass sich durch solche Projekte der Charakter und die Atmosphäre der Subkultur mitunter stark wandeln konnten. Große Teile entdeckten eine neue Form der Volkstümlichkeit für sich. Nationale Traditionspflege und das Besingen der Heimat gewann zunehmend an Bedeutung. In Deutschland etwas schien bei Projekten wie FORSETI oder ORPLID der Weg zur bündisch geprägten Volksmusik auf einmal ungleich kürzer als zur urban geprägten „Industrial Culture“ der 80er Jahre. Eine erstaunliche Entfernung von den Ursprüngen einer Subkultur innerhalb weniger Jahre.

Während dieser partiellen Entwicklung hin zu mehr Volkstümlichkeit innerhalb des Neofolks starb der ursprüngliche Industrial nicht aus. Er existiert heute noch und es überschneiden sich aufgrund gleicher Vertriebswege die Hörerschaft des volkstümlichen Neofolk und des krachigen Industrials immer noch erheblich, wenn er auch immer häufiger wie ein wenig origineller musikalischer Anachronismus wirkt und heute weniger als Herangehensweise und mehr als musikalischer Abdruck begriffen wird. Viele heute aktive Projekte lassen sich eher als Post-Industrial-Projekte bezeichnen; damit sind Projekte von Künstlern gemeint, die Stilelemente des Industrial mit Elementen angrenzender, von jeher verwandter Genres, wie etwa der Ambient-, der rituellen oder eben der folkloristischen Musik verbinden und so einen oft sehr individuellen Stil entwickeln.

Diese können, wenn es sich aufgrund der „Verwandtschaftsverhältnisse“ anbietet, eigentlich als Bestandteil der Neofolk-Subkultur angesehen werden, auch wenn die Musik oft mit Folk wenig bis gar nichts zu tun hat. Entscheidend ist, dass das Gros der Hörerschaft und die Vertriebswege identisch sind. Diese Post-Industrial/Neofolk-Projekte pflegen häufig einen martialisch-heroischen Stil, der z.B. Erinnerungen an Richard Wagner und generell klassische und alte Musik wachruft oder sich mitunter deutlich an militärischer Marschmusik orientiert. Einige Projekte verfeinern ihren Klang durch Beimischung historischer Tondokumente, genannt Samples – dies können Tonausschnitte aus Filmen sein oder Originaltondokumente politischer Reden, Rundfunkansprachen, mitunter sogar Handsirenen, Bombeneinschläge und ähnliches Kriegsgeräusch. Der Sinn und Zweck dieses Vorgehens liegt auf der Hand: Die Musik möchte Zeitgeschichte, die Tragik einer historischen Epoche, erlebbar machen und eine bedrückende Aura erzeugen. Die Samples sind im Idealfall sorgfältig ausgewählt und verweisen auf tiefer gehende Bedeutungsebenen, d.h. nicht selten erschließt sich die Musik auch hier erst über Hintergrundwissen. Wichtige Vertreter des Post-Industrial-Neofolk sind ALLERSEELEN, BLOOD AXIS und DER BLUTHARSCH.

Einordnung und Kritiker

Anfangs wurde erwähnt, dass diese Szene und ihre Musik gemessen an ihrem eigentlichen Bekanntheitsgrad die Gemüter speziell in Deutschland, aber auch in Österreich, über die letzten Jahre ungewöhnlich stark erhitzen. Es ist wohl nötig, in aller Kürze hierzu noch ein paar Sätze zu verlieren: Wenn man sich ansieht, welche Themen bei dieser Musik im Vordergrund stehen, nämlich vor allem romantische, „antiaufklärerische“ Themen, verbunden mit der nicht nur unterschwelligen Forderung, dem mythischen Denken auch in der modernen Welt Freiräume zu schaffen oder gar diesem gegenüber aufklärerischen Traditionen ein höheres Recht einzuräumen, dürfte relativ klar sein, was an dieser Musik und der mit ihr verbundenen Subkultur als besonders „problematisch“ empfunden wird. Im Grunde wiederholen sich zwischen Szene und ihren Kritikern, meist Vertreter des radikalen „Antifa“-Spektrums, die Wortgefechte und Debatten im Kleinen und natürlich themenspezifischer, die in Deutschland im popkulturellen Kontext immer dann auftauchen, wenn der Markt eine Band hervorspült, die sich positiv auf Deutschland als Nation bezieht, wo doch, so die meinungsbildenden Kritiker, Deutschlands Geschichte („der Führer, der nicht sterben darf“) das Aufgreifen altgermanischer Sagen, so wie es Neofolkprojekte gerne praktizieren, von vorhinein zumindest „verdächtig“, wenn nicht gar als (zu) „gefährlich“ (in dem Zusammenhang immer eines der meist gebrauchten Wörtchen in der BRD) erscheinen lassen sollten.

Diese Auseinandersetzung zwischen Vertretern der Subkultur und einigen, beileibe nicht allen, links bis linksradikalen Kritikern lässt sich ursprünglich natürlich als ein Kampf um die Deutungshoheit dieser Musik gegenüber eher neutral Unbeteiligten verstehen. Mittlerweile zergeht sie sich jedoch oft genug in spitzfindigen Beweisführungen zu ästhetischen Problemen, etwa zur Frage, ob DEATH IN JUNEs Adaption des nazistischen Horst-Wessel-Liedes (auf dem 1987er Album „Brown Book“) durch die traurige Grundstimmung der Aufnahme eher eine romantische Verklärung der Nazizeit ist oder ganz im Gegenteil hier die Unmenschlichkeit des Regimes ästhetisch vorgeführt wurde, immerhin ist der Adaption ein eindeutiges, auf den Holocaust hinweisender Tonausschnitt eines antifaschistischen Bewältigungsfernsehfilms vorangestellt. Wer sich all die reflexhaften Debatten zum rechten Umgang mit dem 3. Reich und seiner „Bewältigung“ bzw. seiner angeblichen oder tatsächlichen monströsen Singularität, die in Deutschlands Feuilletons turnusmäßig ausgetragen werden, in Erinnerung zurückruft, bekommt wohl eine Vorstellung davon, in welch humorloser Atmosphäre die Streitigkeiten hier in der Regel ablaufen, zumal es dabei nicht bleibt und auch oft Veranstaltungen der Subkultur durch Drohungen an die Pächter von Konzerträumen akut bedroht sind.

Die Frage, wie zum Teil eindeutige, auf faschistische Bewegungen und Vordenker verweisende Referenzen der Szene und ihrer Musik oder wie die neuheidnische Orientierung politisch verstanden werden kann, sind für jeden, der sich damit näher befasst, höchst komplex, von Widersprüchen durchsetzt und natürlich stark vom eigenen politischen Hintergrund abhängig. Die Neofolksubkultur befindet sich hier sowieso nicht nur unter ständiger Antifa-Beobachtung, sondern auch in einem Prozess der pausenlosen Selbstbefragung zu diesen Themen: „Sind wir oder was ist an uns rechts?“, „Was bedeutet ‚rechts‘ in einem rein kulturell – schöngeistigen Zusammenhang?“ – denn natürlich geht es um anthropologische Wertungen und kulturkritische Sentiments, niemals um Themen direkt politischer Verwendbarkeit. Als Ganzes fühlt sich die Neofolkszene angesichts der Massivität der Vorwürfe eher unverstanden und versucht sich zu wehren. In der allgemeinen Nervosität wird da leider oft vergessen, dass es neben vielen, mit der Ikonografie faschistischer Bewegungen mehr oder weniger tiefgehend spielenden Neofolkprojekten auch eine Reihe gänzlicher anderer gibt, deren Einflüsse vollkommen davon losgelöst sind.

So etwas wie einen ästhetischen Grundkonsens oder ein kulturelles, gar politisches Credo gibt es für die Szene nicht. DOUGLAS P. von DEATH IN JUNE antwortete einmal auf die Frage, ob er sein Projekt als Teil einer vergangenen oder gegenwärtigen intellektuell-künstlerischen Bewegung sehe, mit einem Satz, der vielleicht über DEATH IN JUNE hinweg auf große Teile der Neofolkmusik allgemein verweist und etwas Verbindendes ausdrückt:

„Was es auch sein mag, ich glaube, es ist ziemlich schwer einzuordnen und hat bisher noch keinen Namen erhalten. Was es auch sein mag, der Begriff „eurozentrisch“ sollte darin vorkommen.“2

Die Unbestimmtheit der Aussage ist da sicher keine Ausrede, vielmehr beruht sie auf einer Art „kreativer Verwirrung“, die für die gesamte Musik, die Botschaft sein will, diese aber selbst nur vage kennt, typisch ist.

Zu Teil 1: https://identitaere-generation.info/neofolk-eine-kulturelle-vision-eines-europas-der-vielfalt/

  1.  Picicci, Annibale: ‚Industrial zwischen Tradition, Konfrontation und Affirmation Linker und Rechter Mythologie‘, in: Testcard # 12: „Linke Mythen“ []
  2.  Andreas Diesel & Dieter Gerten, „Looking For Europe – Neofolk und Hintergründe“, Auerbach Tonträger 2005. []
allerseelen argine blood axis death in june der blutharsch ernte forseti orplid

Über Julian U.

Julian U.
Lebt in Wien, als Student sowie leidenschaftlicher Bücher- und Tonträgersammler.

Ein Kommentar

  1. Gut gemacht, Herr Utz!
    Wäre noch hinzuzufügen, dass sich in der NF-Szene auch starke Einflüsse des modernen Satanismus, ala A. E. („Aleister“) Crowley bzw. Szandor LaVey („Church of Satan“) finden.
    Um solchen fragwürdigen Tendenzen (Dekadenz, Fetischismus, Okkultismus, Satanismus) in der „Szene“ effektiv entgegenzutreten, wäre, meiner Meinung nach, eine stärkere Anbindung an den meta-politischen Bereich wünschenswert. Wenn es dem „NF“ mit Europa wirklich ernst ist und er nicht bloß ein weiteres post-modernes Musik-Genre sein will, sollte er unbedingt den Kontakt zur „IB“ suchen

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