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Neofolk – Die kulturelle Vision eines Europas der Vielfalt (3)

Es bietet sich an, mit drei Vertretern der ersten Generation zu beginnen, dem wohl zentralsten Projekt der Neofolksubkultur DEATH IN JUNE und den direkten Verwandten SOL INVICTUS und FIRE & ICE, alle aus England. Bei diesen dreien dürfte es sich um die prägendsten Projekte der gesamten Subkultur handeln. Alles, was die Neofolk-Musik ausmacht: Lagerfeuerromantik, mitunter das Aufflackern ästhetischer Ambivalenzen und ein kämpferischer Unterton, finden sich hier in voller Blüte ausgebildet.

Die Pioniere aus England

Von der Musik, den behandelten Themen bis hin zum Kleidungsstil ihrer Fans haben DEATH IN JUNE sicherlich das gängige Selbst- und Fremdbild der Subkultur Neofolk am Entscheidendsten geprägt. Entstanden sind DEATH IN JUNE aus der marxistisch-trotzkistisch orientierten Punk-Band CRISIS. Das erste Line-Up bestand aus Sänger und Haupttexter DOUGLAS P., TONY WAKEFORD (später bei SOL INVICTUS) und PATRICK LEAGAS bzw. O’KILL (später bei SIXTH COMM). Heute besteht DI6, wie sie abgekürzt werden, allein aus Douglas P., der jedoch gerne mit befreundeten Musikern wie ALBIN JULIUS (DER BLUTHARSCH), BOYD RICE (NON) oder ANDREAS RITTER (FORSETI) zusammenarbeitet. DEATH IN JUNE zelebrierten in ihrer frühen Phase einen melancholisch-urbanen, minimalistischen Post-Punk, wie ihn viele Projekte in und um London spielten. Nach einigen Besetzungswechseln näherten sie sich jedoch immer mehr einer ganz eigenartig betörenden, mythischen Form von Folk-Musik, die maßgeblich das Verständnis von dem, was Neofolk ist oder sein könnten, prägen sollte.

Es ist jedoch nicht die Musik allein, die DEATH IN JUNE als Referenz dieser Musikkultur so zentral macht. Vielmehr ist es das Zusammenspiel aus Musik, Lyrik und ästhetischer Präsentation, die eine Art „Corporate Identity“ schuf, die nun schon seit über 20 Jahren für Diskussionen sorgt. Zentral ist hier u. a. das Bühnenoutfit: Eine Militäruniform, ein modifizierter SS-Totenkopf als Bandemblem und sehr häufig (Todes-)masken – all dies im Verbund mit Texten, die von Einsamkeit und Liebe erzählen, aber auch Motive beinhalten, die aus dem Fundus europäischer, kulturpessimistischer-kritischer Lebensphilosophie, der SM-Kultur und schwuler Literatur (YUKIO MISHIMA) – Douglas P. bekennt sich offen zu seiner Homosexualität – herrühren. DEATH IN JUNE und ihr künstlerisches Wollen, die Intention DOUGLAS P.s, sind ein Dauerthema sowohl der Szene als auch der Kritiker. Eine einheitliche Interpretation, etwa zur Benutzung des SS-Totenkopfes als Bandemblem, ist nicht in Sicht, zu vielsichtig sind hier die Ansätze, und genau das scheint den Reiz dieses Projekts auszumachen. „Runes and Men“ vom klassischen „Brown Book“-Album wäre eines der bekanntesten und faszinierendsten Stücke. Douglas P. singt hier von nicht näher definierten „großartigen Zeiten“, die zwar nicht – wie oft angenommen von Adolf Hitler – aber doch vom Münchner Gauleiter Adolf Wagner stammt, der hier mit allegorischen Worten das Massaker an der SA 1934 zu rechtfertigen sucht. Der Song ist ein klassisches Beispiel für DEATH IN JUNEs Versuch, Ambivalenzen durch die Juxtaposition verschiedener, sich widersprechender Aussagen zu erzeugen.

Hinter SOL INVICTUS steht der schwergewichtige Engländer TONY WAKEFORD, der zur alten Besetzung sowohl von CRISIS als auch von DEATH IN JUNE gehörte. Die musikalische Entwicklung von SOL INVICTUS verlief derjenigen des alten Mitstreiters Douglas P. nicht unähnlich, von wütend – verzweifelndem Post-Punk hin zu einer unheilvollen, dunklen Form englischer Folkmusik. Das Klangbild ist jedoch seit einigen Jahren sehr warm und harmonisch, geprägt von Geigen und Cellotönen. Zur klassischen, frühen SOL INVICTUS-Besetzung gehörte neben TONY WAKEFORD vor allem der Magier IAN READ, der auch teilweise sang und später FIRE & ICE gründete. Heute arbeitet TONY WAKEFORD vor allem intensiv mit MATT HOWDEN (SIEBEN) und ERIC ROGER (GAE BOLG AND THE CHURCH OF FAND) zusammen.
Wichtige lyrische Themen Wakefords waren über Jahre hinweg ein recht offensiv vertretendes „Neuheidentum“, der Name ist bereits Bezugnahme auf den römisch-solaren Mithraskult, sowie vor allem ein sich auffällig wiederholender, pathosreicher Bezug auf „Europa“ als Leitbild, dessen Identitätsverlust angesichts kultureller Amerikanisierung beklagt und dessen einheitsstiftende Kraft beschworen wurde. Das Europa-Thema, das Besinnen auf abendländische oder besser vorchristliche Traditionen und damit auch der Wunsch, den Chauvinismus der Vergangenheit, der Europa in zwei Bruderkriege führte, zu besiegen, zieht sich als lyrisches Motiv wie ein roter Faden durch die Geschichte des Neofolk, heute vor allem von OSTARA und HEKATE weitergetragen, während sich bei SOL INVICTUS in den letzten Jahren eine behutsame Veränderung, eine leise Hinwendung zu eher christlichen Themen sowie ein leichter Swing- und Jazzeinfluss andeutete.

FIRE & ICE ist die musikalische Plattform des Runen- und Chaosmagiers IAN READ, der vor FIRE & ICE bereits Gastauftritte bei CURRENT 93 und DEATH IN JUNE zu verzeichnen hatte und festes Mitglied bei SOL INVICTUS war. Der Name des Projekts leitet sich aus der nordischen Mythologie ab, laut der die Welt einst aus Feuer und Eis geschaffen wurde. Man kann hier vielleicht schon erkennen, dass FIRE & ICE das sich am meisten um Ursprünglichkeit, Tradition und Purismus bemühende Projekt der ersten Neofolk-Generation ist. Während etwa SOL INVICTUS und DEATH IN JUNE stark von moderner Literatur und der Welt des Kinos beeinflusst sind oder zeitgeschichtliche Themen aufgreifen, findet sich all das bei IAN READS Projekt nicht. Die Basis der Musik ist purer Folk, wenn auch früher mitunter durch elektronische „Gothic“-Momente bereichert. IAN READ vertont und interpretiert sehr gerne angelsächsische Volksweisen und -lieder neu, erschafft jedoch auch eine eigene tief in indogermanischer Anschauung verwurzelte Lyrik.

Er genießt in der Welt der Magie und in der seriösen Ásatrú-Szene (Glaube an die Asen des germanischen Pantheons) großen Respekt. Einst gehörte Ian Read zum Kreis der Mitentwickler der Chaos-Magie, zu Beginn der 80er Jahre die Ikonoklasten in der tendenziell konservativen Welt der okkulten Vereinigungen und magischen Orden. „Chaosmagie sagt, dass Glaube eine Technik ist, und das bedeutet, dass man nur die Technik benutzt und den Glauben vergisst“, erklärte Read in einem Interview. Heute betreut er mit MICHAEL MOYNIHAN (BLOOD AXIS) die neuheidnisch ausgerichtete Zeitschrift RUNA der Runen-Gilde, einer wissenschaftlich arbeitenden Studiengruppe zu Fragen altgermanischen Brauchtums und Spiritualität. Darüber hinaus ist er als Kampfsportler und Deutsch-Übersetzer aktiv.

Die Provokateure aus den USA

Es dauerte etwas, bis der Neofolk in dem Sinne, wie er hier zu beschreiben versucht wird, nämlich als Netz von Kontakten, über den großen Teich nach Nordamerika, vor allem nach USA, überschwappte. Freundschaftliche Beziehungen waren es wieder einmal, die einzelne Verästelungen des Stammbaums „Neofolks“ auch dort wachsen ließen. Eine Schlüsselrolle nimmt hier der Industrialmusiker, Entertainer und Provokateur BOYD RICE ein, auch wenn die Musik, die ihn berühmt und berüchtigt machte, denkbar weit von jeder Form von Gitarrenmusik entfernt ist. BOYD RICE gehört zu den Pionierfiguren der ursprünglichen „Industrial Culture“, seit Mitte der 70er tritt er hier unter dem schlichten Namen NON auf. Berühmt wurde er vor allem in Avantgardekreisen durch seine frühen, rein mit den Mitteln des Lärms arbeitenden Industrialwerke, die auf Vinyl gepresst den Hörer am künstlerischen Prozess beteiligten, indem etwa die surrealen Krachklangcollagen in verschiedenen Geschwindigkeiten abspielbar waren oder Endlosrillen zum Experimentieren einluden. BOYD RICE ermutigte den Konsumenten auch dazu, weitere Löcher in das Vinyl zu bohren, um mit dem vorhandenen, auf Vinyl gepressten Klangmaterial weiter nach eigenem Gutdünken zu experimentieren. So wandelte sich der Hörer vom passiven Konsumenten zum aktiv Beteiligten.

BOYD RICE gilt vielen vor allem als Provokateur. Er umgibt sich gerne mit Insignien des 3. Reiches oder des italienischen Faschismus, betont, ein Menschenfeind zu sein und für das Recht des Stärkeren einzutreten. Gleichzeitig jedoch ist er ein humorvoller und viel geschätzter Liebhaber amerikanischer Lounge-Kultur der 40er, 50er und frühen 60er Jahre, Barbiepuppensammler und Entdecker radikaler, vergessener Außenseiter der Film- und Entertainment-Branche. „Total War“ ist wohl sein bekanntestes Stück, die Textzeile „Do you want Total War?“ erinnert natürlich sofort an Goebbels einpeitschende Propagandarede im Sportpalast 1943.

Es ist typisch für BOYD RICE, dass er gerade nicht erklärt, wie diese und andere unheilvolle Referenzen zu verstehen sind, ja sogar mit der nietzscheanisch-antichristlichen Folgezeile „Throw out Christ and bring back Thor“ noch eins drauf setzt. Der Hörer wird hier rettungslos mit den sich unweigerlich einstellenden Gedanken an die Bestie im Mensch allein und seiner eigenen Phantasie überlassen, und BOYD RICE zeigt, dass dies 60 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges doch zu beträchtlicher Verwirrung und zu hysterischen Reaktionen führen kann. BOYD RICE ist seit vielen Jahrzehnten ein enger Weggefährte DOUGLAS P.s. Auch wenn er mit NON niemals folkloristische Musik vertonte, kommt ihm als Gast bei DEATH IN JUNE und vielen anderen Neofolk-Projekten (enge Beziehungen bestehen auch zu DER BLUTHARSCH), vor allem aber auch als Ideengeber eine große Bedeutung innerhalb der Neofolk-Subkultur zu.

MICHAEL MOYNIHAN, ein früher Weggefährte von BOYD RICE, nimmt wohl eine besondere Rolle in der Geschichte der Neofolkmusik ein. Wie bei so vielen Musikern dieser Szene liegen seine künstlerischen Ursprünge in der Industrial Culture. Als Jugendlicher machte er sich mit seinem Projekt COUP DE GRACE einen Namen. Ende der Achtziger dann eine erste musikalische und konzeptionelle Umorientierung: Sein Projekt firmierte nunmehr als BLOOD AXIS. Die frühen BLOOD AXIS-Jahre sind eng verknüpft mit dem deutschen Musikverlag CTHULHU Records, welches auch von Musikern des Projekts ERNTE betrieben wurde und dem durch jahrelange Pionierarbeit eine besondere Stellung innerhalb der Szene zukam. BLOOD AXIS veröffentlichten auf CTHULHU Zusammenstellungen ihre ersten Stücke und schlussendlich auch ihr Debütalbum „The Gospel Of Inhumanity“, einen der Genre – Klassiker des Post – Industrial schlechthin. BLOOD AXIS perfektionierten in dieser Zeit dank der Fähigkeiten des Gitarristen und Toningenieurs BOB FERBRACHE den Umgang mit historischen Tondokumenten. Sie sampelten aus klassischen Musikstücken, mischten Mitschnitte aus Reden von z.B. dem amerikanischen Poeten EZRA POUND oder Bürgerschreck CHARLES MANSON darüber und kreierten so ein Werk von verschiedenen Bedeutungsebenen, dessen zentrale Themen „Dekadenz“, Krieg, Sehnsucht nach neuen antibürgerlichen Lebensformen die Phantasie der Hörer aufwühlte. Kritiker, die diese Subkultur ohnehin nicht aus den Augen lassen, warfen besonders BLOOD AXIS vor, einen konservativen-revolutionären Subtext in der Musik als unterschwellige Botschaft mitzuliefern. Ein Verdachtsmoment, der sicherlich zur Faszination der frühen BLOOD AXIS beitrug und ein Beispiel dafür ist, wie sehr bei dieser Musik nicht nur das unmittelbar sich musikalisch Zeigende wichtig ist, sondern das, was der Hörer in seiner Phantasie, entsprechend seines Vorverständnisses, daraus macht. Bei BLOOD AXIS kommt als entscheidender Faktor das außermusikalische, publizistische Engagement des Künstlers MICHAEL MOYNIHAN und seiner Lebensgefährtin, der Violinistin ANNABEL LEE, hinzu. So erscheinen in ihrem Buchverlag DOMINION Bücher zur indogermanisch-heidnischen Glaubenswelt, zu erotischer Kunst und anderen Themen, die von einem Publikum, interessiert an radikaler Infragestellung aufgenommen werden.

CHANGES, das Projekt der beiden COUSINS ROBERT N. TAYLOR und NICHOLAS TESLUK, kann auf eine ganz ungewöhnliche Geschichte zurückgreifen. Das Projekt entstand Ende der 60er in der Gegend um Chicago, zu einer Zeit, in der natürlich von Neofolk noch nicht die Rede war. Ihre Art des Folk war minimalistisch und geprägt durch den zweistimmigen Gesang der beiden Cousins, der entfernt etwas an SIMON & GARFUNKEL erinnern kann. Dass CHANGES heute innerhalb der Neofolk-Subkultur von Bedeutung sind ist vor allem MICHAEL MOYNIHAN zu verdanken, der sich rund zwanzig Jahre später mit dem ungleich älteren ROBERT N. TAYLOR anfreundete, von CHANGES erfuhr und sofort begeistert war von alten, unveröffentlichten CHANGES-Tonbändern und ihrer Fähigkeit, die apokalyptische Grundstimmung der späten 60er, die die Hippie-Gegenkultur über weite Strecken schon vor den Manson-Morden ergriff, zu verbreiten, ganz so, als befände man sich in einem Zeitloch. Mit Moynihans Hilfe gelang es, die alten Tonbänder zu restaurieren und ein Album namens „Fire Of Life“ zu veröffentlichen, welches direkt zum Klassiker des Genres avancierte. Wichtig für die Szene scheint bei CHANGES vor allem die Extraportion Authentizität zu sein, die in ihrer Musik liegt und die sich im abenteuerlichen Leben des Dichters, Malers und Sängers ROBERT N. TAYLOR widerspiegelt, der in jungen Jahren in paramilitärischen rechtsrevolutionären Guerilla-Einheiten aktiv war und dem eine bedeutende Rolle in der Geschichte nordamerikanischen Ásatrú-Bewegung zukommt. Seit dem Erfolg des „Fire Of Life“ Albums sind die beiden Cousins, auch wenn sie innerhalb der Szene deutlich älter als ihre musizierenden Kollegen sind, wieder aktiv und schreiben an neuen Songs.

Die Romantiker aus Deutschland

Die nun vorgestellten zwei deutschen Neofolk – Projekte OPRLID und FORSETI spielen in der Geschichte der Neofolkmusik, weit über Deutschland hinaus, eine ganz besondere Rolle. Sie erweiterten unsere Vorstellung von dem, was Neofolk ist, erheblich und fügten der Stilvielfalt ab etwa 1997 eine weitere Stoßrichtung hinzu, die mehr war als bloß eine weitere Nuance. Eigentlich lässt sich hier sogar von einem neuen, weiteren Ursprung des Neofolk sprechen, denn das, was hier musikalisch angeleiert wurde, war in der Tat neu und für diese Subkultur ungewohnt. Dabei tat man nichts weniger als im Szenekontakt deutsches Liedgut zu präsentieren, wie es bereits einige Jahre vorher ERNTE einsam und allein vormachten. Auffallend war vor allem, wie wenig man sich auf vermeintliche angelsächsische Vorbilder wie DEATH IN JUNE oder SOL INVICTUS berief, ORPLID praktisch gar nicht und FORSETI auch nur sehr bedingt.

Die Hallenser UWE NOLTE und FRANK MACHAU spielten vor der Gründung ihres Projekts ORPLID in einer Metal-Band namens RÜCKGRAT. Um 1997 dann die Gründung ORPLIDS – Orplid ist der Name einer paradiesischen Insel in EDUARD MÖRIKES Gedicht „Gesang Weylas“ -, verbunden mit dem Wunsch, musikalisch in eine völlig andere Richtung zu geben und eine neue Form der Volksmusik zu erschaffen. Das Debüt wurde auf dem Dresdner Musikverlag EIS UND LICHT veröffentlicht, einem Label dem in Zukunft der Verdienst zukommen sollte, Geburtsstätte und großer Förderer dieser neuen Neofolkgattung, mitunter schlicht „Neue deutsche Folklore“ genannt, zu sein. ORPLIDS Musik ist etwa zu gleichen Teilen bombastisch, neoklassisch, bisweilen martialisch, und sanft, geprägt von Akustikgitarre und mehrstimmigen Gesang. Der größte Unterschied zu anderen Neofolkprojekten liegt wohl darin, dass ihre Musik nach Perfektion strebt. Während bei „klassischen“ Neofolkprojekten ein schiefer Gesang nicht groß ins Gewicht fällt, weil die „Haltung“ zählt, wäre dies bei ORPLID undenkbar. Hier ist jedes Detail wichtig und ausgeklügelt, was zur Folge hat, dass ORPLID trotz nicht zu knapper martialischer Elemente viel poppiger als andere Projekte wirkt. Manchmal glaubt man es mit einer deutschen Antwort auf SCOTT WALKER zu tun zu haben. Eine andere Folge des Perfektionsbestrebens besteht darin, dass ORPLID als reines Studioprojekt konzipiert ist. Live-Auftritte wären bei dieser Musik, der auch ein gewisser Hörspielcharakter innewohnt, undenkbar. Ganz groß ins Gewicht fällt zudem die neuromantische Lyrik Uwe Noltes, die mit Vertonungen von FRIEDRICH HÖLDERLIN oder FRIEDRICH SCHILLER einhergeht. Die Lyrik ist ausnahmslos auf Deutsch verfasst. Einen hohen Stellenwert nehmen Themen der germanischen Mythologie ein, ohne dass ORPLID, hier auch im Gegensatz zu vielen anderen Projekten, bewusst ein irgendwie geartetes „Neuheidentum“ vertreten. Die Aufgabenverteilung ist bei ORPLID mehr als unkonventionell gelöst: Uwe Nolte ist Lyriker, Ideengeber und extrovertiertes Sprachrohr des Projekts, Frank Machau der Musiker, tatsächlich sind fast alle Instrumente und oft auch der meiste Gesang von ihm eingespielt.

Das zweite stilprägende Projekt der „Neuen deutschen Folklore“ stammt aus Jena, überhaupt entwickelte sich diese Neofolkform alleine in den neuen Bundesländern. Die Rede ist von FORSETI, das Projekt des Photographen ANDREAS RITTER. Im Vergleich zu ORPLID ist ihre Musik viel treibender, weniger detailverliebt und vor allem stark geprägt durch die Folklore der bündischen Jugend, die das Erleben und die Spontaneität in den Mittelpunkt stellt. Basis der FORSETI-Folklore ist neben Akustikgitarre, Schlagwerk, mitunter eine Querflöte, vor allem das Akkordeon. FORSETI verzichten vollständig auf elektronische Elemente. Deutlicher noch als ORPLID beziehen sich FORSETI auf die deutsche Romantik und deren Naturverehrung, vertonen Dichtungen von LUDWIG UHLAND, LUDWIG TIECK, aber auch GOETHE oder HERMANN HESSE. Schon mit ihrem ersten Tonträger, erschienen auf EIS UND LICHT, erspielten sich FORSETI, unterstützt durch zahlreiche Live-Auftritte zusammen mit international renommierten Neofolkprojekten, eine große Beliebtheit in der Szene, und zwar nicht nur in Deutschland. Offenbar trafen FORSETI einen Nerv in der Szene, jeder spürte, dass hier ein ganz neuer Neofolk-Stil entwickelt wurde. ANDREAS RITTER und DOUGLAS P. halfen sich nun gegenseitig bei ihren jeweiligen Studioaufnahmen, und auf späteren FORSETI-Alben sind auch IAN READ und B’EIRTH (IN GOWAN RING) als Gäste vertreten. Die zeigt, wie sehr deutschsprachiger Neofolk, und allen voran FORSETI, auch international als willkommene, neue romantische Facette des Genres geschätzt wird.

DARKWOOD aus Dresden ist mit FORSETI und ORPLID wohl das bekannteste deutsche Neofolk-Projekt. Mittlerweile erschienen unter der Regie HENRYK VOLGES fünf Vollzeitalben, ein Livealbum, ein Kurzzeitalbum, verschiedene Samplerbeiträge und eine Single, auf der DARKWOOD sich stark von russischer Folklore beeinfluss zeigten. Anfänglich bot DARKWOOD klassischen, stark von SOL INVICTUS geprägten Neofolk mit deutschen, aber auch englischen und sogar russischen Texten. Im Laufe der Jahre jedoch entwickelten DARKWOOD immer mehr einen eigenen Stil, der vom Wechselspiel elektronischer Post-Industrial-Kompositionen und puren Lagerfeuer-Romantik-Folkliedern lebt. Stärker als etwa bei FORSETI spielen bei DARKWOOD zeitgeschichtliche Themen, Krieg und seine psychischen Folgen, die kulturelle Amerikanisierung Deutschlands, eine Rolle. Um Reflektionen dieser Art auch musikalisch-ästhetisch Gewicht zu verleihen, bemühen sich DARKWOOD immer wieder darum, Formen ästhetischer Ambivalenz zu erzeugen. So geht es dann, wenn ihre düstere Folklore martialische Elemente betont, sicher nicht um naive Verherrlichung kriegerischer Abenteuer, sondern darum, auch emotional die Tragik geschichtlicher Konstellationen erlebbar zu machen.

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Über Julian U.

Julian U.
Lebt in Wien, als Student sowie leidenschaftlicher Bücher- und Tonträgersammler.

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