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Photographie und Identität

Provokant dämlicher Gesichtsausdruck, abartige Körperhaltung, unvorteilhafte Perspektive. Einen frechen Kommentar hinzugefügt und schon wird das zwanzigste „Selfie“ des Tages mit der Welt geteilt.

Ich sitze da, in einem Gemütszustand zwischen komplettem Desinteresse und Fassungslosigkeit, und frage mich: Was ist nur los mit den Leuten?

Warum trägt nahezu jeder Mensch permanent eine Kamera bei sich, sei es ein sündteures Profiexemplar oder die mittlerweile hochqualitative Symbiose mit dem Smartphone, und hat dabei das Bedürfnis, ständig und alles, doch besonders sich selbst, zu fotografieren? Sind wir einfach nur oberflächlich und selbstverliebt oder kann man mit ein bisschen Feingefühl auch ein wenig tiefer nach Erklärungen suchen?

Ich wage zu behaupten, dass dieses Phänomen nur ein weiteres Anzeichen dafür ist, dass wir, mehr als zuvor, ein starkes Bedürfnis nach Identität haben.

Generation „Selfie“

Wer bin ich? Woher komme ich? Wo gehöre ich hin? Was macht mich aus?

Wenn wir uns diese Fragen stellen, jedoch keine Antworten finden können, fehlt es uns an Sicherheit und Halt im Leben. Denn wer sich seiner Identität nicht bewusst ist, steht ziellos und verloren in der Welt, hat kein Selbstbewusstsein und neigt oft dazu, sich verleiten oder manipulieren zu lassen.

Wir verspüren aber anscheinend doch alle einen Drang, uns damit auseinanderzusetzen, wer wir sind, suchen nach Reflexion – einem Spiegel, einer Kamera. Wir betrachten uns auf einem Bild und meinen dabei, uns selbst zu sehen. Doch bin das auf dem Foto wirklich ICH?

Wir inszenieren unsere Bilder auf die verlogenste Art und Weise, stellen jemanden dar, der wir nicht sind, aber vielleicht gerne wären, arrangieren, retuschieren und schaffen uns somit selbst eine eigene Welt, einen Rahmen, der uns Halt und Identität bietet.

Wem das allerdings noch nicht reicht, der sucht sich seine Reflexion bei Außenbetrachtern. Denn wenn wir selbst nicht wissen, wer wir sind, müssen es uns eben die anderen sagen. Eine ganze Generation persönlichkeitsloser Einheitsmenschen schreit ihre Unsicherheit, ihren Wunsch nach Zugehörigkeit und Selbstwertgefühl in die Welt hinaus. Es werden Posen kopiert und Grimassen imitiert, in einem Ausmaß, das jedwede Würde vernichtet; doch das scheint der Preis für ein bisschen Anerkennung und Bestätigung zu sein. Jeder behauptet, außergewöhnlich und möglichst individuell sein zu wollen und doch sprechen die Taten dafür, dass wir uns nach gewissen Normen und Gemeinsamkeiten mit unseren Mitmenschen sehnen. Denn Zugehörigkeit, sei es die Nationalität, Religion, Familie oder Interessensgemeinschaft, ist Teil unserer Identität.

Bei aller Verachtung für den geistlosen Selbstdarstellungskult kann man aber durchaus auch eine positive Komponente erkennen. Wir leben in einer Kultur des Selbsthasses. Wir haben regelrecht gelernt, uns selbst zu verachten, uns für unsere Identität zu schämen – eine Geisteshaltung, mit der wir uns selbst schwächen, zerstören und letztendlich vernichten. Vielleicht ist es also gerade deshalb ein zaghaftes Zeichen des in uns schlummernden Selbsterhaltungstriebes, dass wir, wenn auch auf absurde Art und Weise, wieder lernen, uns selbst zu lieben, mit uns selbst zu beschäftigen und ein gesundes Maß an Egoismus zu entwickeln. Denn nur wer selbst stark und vital ist, kann auch kämpfen und anderen helfen. Und wir können andere erst dann wertschätzen und lieben, wenn wenn wir gelernt haben, uns selbst zu lieben.

Momente festhalten

Warum fotografierst du?“

Ich will Momente festhalten.“

Wen wir auch fragen und so originell und genial sich die Menschen damit auch vorkommen, wir hören immer wieder die gleiche abgedroschene Standardantwort. Warum will man jeden Moment, in dem man nicht gerade an exzessive Arbeit oder einen flimmernden Bildschirm gefesselt ist, festhalten?

Festhalten. Und wieder klammern wir uns an etwas, das uns ein Gefühl von Dauer und Stabilität gibt, in einer Welt ohne Identität und Halt. Wir wollen etwas, das bleibt. Wir wollen, dass etwas von uns bleibt. Eine Momentaufnahme, eine Erinnerung, in der wir fortleben und in der das fortlebt, was uns ausmacht. In vergangenen Epochen hat man wohl stilvolle Gebäude, aufwendige Gemälde oder das vermutlich großartigste aller Kunstwerke, ein Kind, erschaffen, und konnte darin ein Stück von sich selbst weitergeben, seine Identität bewahren und fortsetzen. Heute leben wir in einer Welt, die uns zu Tode hetzt, in einer Gesellschaft, die es uns nicht nur verbietet, sondern sogar aktiv dagegen vorgeht, dass wir uns monatelang leidenschaftlich einer Sache hingeben, ein traditionelles Handwerk ausüben oder Kinder großziehen können. Alles muss augenblicklich passieren. Wir drücken auf einen Knopf und schon haben wir die Erinnerung, haben etwas von uns, das festgehalten wird und fortlebt. „Instant continuance“ sozusagen. Wie praktisch.

Bei allen verschiedenen Betrachtungen kommen wir also zu dem einen Schluss:

Unserer Generation fehlt es an Identität.

Wir suchen nach dem ICH, nach Zugehörigkeit und unserem Platz in dieser Welt. Denn nur so können wir selbstbewusst und stark sein, haben Aufgaben und einen Sinn im Leben. Ohne Traditionen, Werte, Heimat und Familie fühlen wir uns haltlos und unsicher.

Die Photographie bietet uns eine Möglichkeit, uns mit unserer Identität auseinanderzusetzen. Wir können über uns selbst reflektieren und Bilder unsere Geschichte erzählen lassen. Gewissermaßen ist doch jedes Foto ein Selbstportrait, sei es eine spontane Momentaufnahme oder eine inszenierte Darstellung. Denn in jedem einzelnen Bild können wir eine Facette unserer Persönlichkeit, unserer Interessen, unserer Herkunft, Heimat und Geschichte wiederfinden.

Und vielleicht ist es die Summe aller Bilder, die unsere Identität ausmacht.

Über Alina von Rauheneck

Alina von Rauheneck
Mitglied der IB Wien und Niederösterreich. Goldschmiedin, Photographin, Studentin der Germanistik in Wien

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