Bei der aufgeregten und ethisch hochgerüsteten Diskussion um die Überzahl der Asyl suchenden Flüchtlinge darf man wohl die Betrachtung von Zusammenhängen vermissen. Basiert das Plädoyer für „Willkommenskultur“ eher auf moralischen Floskeln als auf Sachverhalten und politischer Redlichkeit, so findet es zwar zu emotionalen Ausdrücken, jedoch nicht zu klaren Urteilen und schon gar nicht zu sinnvollem und wirksamem Handeln. Man kann die Kabinettslinie samt Wirtschaft und salonlinker Begleitung – mithin die „politische Klasse“ aus der vielfach beschworene „Mitte“ – im Verdacht haben, daß sich in solchen Begriffen wie „Willkommenskultur“ vor allem ihr Kompensationsbedürfnis gegenüber der weitreichenden neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaft ausspricht, die von der Vergangenheit sozialer Marktwirtschaft längst abgekoppelt ist. Zugunsten der Interessen des deregulierten Finanzmarktkapitalismus, das die Zivilgesellschaft gefährdet. Insofern die demokratisch immer weniger legitimierte Regierungspolitik sich mehr und mehr darauf beschränkt, als Werbe- und Marketingbüro von Bank- und Wirtschaftkapital zu fungieren, sind ihre humanitären Bekenntnisse ohnehin kaum mehr als Rhetorik, während in öffentlich-rechtlichen Medien eine vormundschaftliche Leitlinien-Ideologisierung stattgefunden hat.
Zur Flüchtlingsinvasion: Offenbar gehören zu den Herkunfts- und Transitländer der andrängenden Massen gerade jene, die der Westen durch sein fragwürdiges Sendungsbewußtsein bzw. sein fatales militärisches Eingreifen befreit und befriedet meinte. Der sogenannte „arabische Frühling“ – Was für eine romantische Projektion! – wurde von Europa propagandistisch befeiert und unterstützt, führte aber namentlich in Libyen und Syrien eben nicht in die Freiheit, sondern zu dysfunktionalen Staaten. Mit der Herausbildung freier und demokratischer Republiken durfte dort aus historischen, soziologischen und kulturellen Gründen niemand im Ernst gerechnet haben, insofern der Analyse wenigstens die Stammesstrukturen und die Rolle des Islams zugrunde liegen müssen. Die Idee des arabischen Nationalismus oder gar des Baath-Sozialismus war mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion weitgehend gescheitert. Besetzt wurde das dadurch frei gewordene Terrain vom radikalen Islamismus, der im übrigen antiwestlicher agiert, als es die autoritären Regimes in Nahost je taten.
Der Preis, den Libyen und Syrien für den Sturz Muammar al-Gaddafis und die Schwächung Baschar al-Assads sowie für die vermeintliche Freiheit bezahlten, bestand im Verlust nationaler Souveränität, in der Zerstörung der Infrastruktur, der Aushebelung des (freilich drakonischen) Rechts und in der Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols. – Das Wort Freiheit gehört von jeher zu den schwierigsten Begriffen, die die politische Sprache kennt. Kaum ein Satz, kaum ein Statement oder ein Kommentar, in dem er nicht mißbraucht wird.
Im Vorfeld der neoreligiösen Wendungen, die der vom Westen völlig verklärte arabische Frühling nahm, war bereits im Irak der von der Bush-Administrationen lauthals verkündete Demokratieexport auf katastrophale Weise gescheitert. Peter Scholl-Latour hatte es prognostiziert. Es gewann dort gerade nicht die Freiheit, es siegten zunächst der sunnitisch-schiitische Konflikt und, diesen ausnutzend, die radikalen IS-Gotteskrieger. Sie vergewaltigen gegenwärtig die letzten Reste von Zivilisation, Kultur und Menschenwürde, während der Westen sich auf kurdische Peschmerga verlassen muß, um den islamistischen Fanatikern überhaupt etwas entgegenzusetzen.
Mit Blick auf das europäische Flüchtlingsproblem fällt hingegen insbesondere der muslimische Kosovo ins Auge. Diese obskure Republik entstand bekanntlich erst nach einem 1999 völkerrechtswidrig gegen Rest-Jugoslawien bzw. Serbien geführten Bombenkrieg der NATO – mit dem Ergebnis, daß man Serbien unter Bruch seiner territorialen Integrität den angestammten Kosovo nahm, um Belgrad – als Verbündeten Moskaus – zu schwächen und in Pristina eine halbkriminelle Clique brutaler UCK-Rebellen als Regierung – der Freiheit! – zu installieren, die sich wohl zu bereichern wußte, aber das NATO-Protektorat inzwischen derart verkommen ließ, daß die vermeintlich befreiten Kosovo-Albaner ihr Heil in der Flucht Richtung EU suchen. 26 Prozent aller Asylsuchenden weltweit sind Kosovaren; 31.400 davon stehen allein in diesem Jahr – bislang! – vor deutsche Asylbehörden und stellten dort allein 40 Prozent aller Anträge.
1999 waren in Ergebnis des mit NATO-Feuerschutz geführten Kosovo-Krieges von den UCK-Albanern 170.000 der 200.000 Serben vertrieben, Tausende von ihnen ermordet und eine Progromstimmung gegen die serbisch-orthodoxe Rest-Bevölkerung und deren Kirchen entfacht worden. – Erst nachdem der 78 Tage währende Krieg beendet war, wurde offensichtlich: Es gab kein serbisches „KZ“ in Pristina, kein Massaker von Racak, kein Massengrab in Izbica oder Trepca. All das war insbesondere von Rudolf Scharping in die Welt gesetzt worden, um eine Aggression zu rechtfertigen, die Rest-Jugoslawien endgültig zerstörte, Serbien diskreditierte und den Kosovo letztlich separiert verelenden ließ. Hier liegen wichtige Ursachen für den aus dem Westbalkan andrängenden Flüchtlingsstrom, dem es nach Auskunft des Berliner „Tagesspiegels“ trotz geringer Aussichten auf Asyl ausreicht, ein paar Wochen das Taschengeld zu kassieren und sich endlich medizinisch behandeln lassen zu können.
Die lauten politisch korrekten Moralapostel mit ihrem wohlfeilen Slogan „Refugees welcome!“, genau jene, die selbst wohl kaum einen Flüchtling in ihr steriles Eigenheim-Bad lassen würden, sollten eher rechtzeitig den eigenen Regierungen in den Arm fallen, wenn die – aus purem geo- und machtpolitischem Kalkül – genau das globale Dilemma anrichten, was Flüchtlingsströme auslöst. Im übrigen führt der Exodus der Flüchtlinge in deren jeweiligen Heimatländern mittlerweile zum Verlust des menschlichen Potentials, das zu politischen und wirtschaftlichen Veränderungen ebendort nötig wäre.
Libyen und Syrien galten dem Westen längst als ausgemachte Feinde und sollten als solche aus strategischen Gründen paralysiert werden. Ebenso wie Serbien, der traditionelle Partner Rußlands auf dem Balkan. Vergessen wir nicht: Den Krieg gegen Jugoslawien führten damals maßgeblich ein sozialdemokratischer Kanzler, Gerhard Schröder, gemeinsam mit seinem Genossen Verteidigungsminister, Rudolf Scharping, und dem grünen Außenminister Joschka Fischer. Genau die Parteien dieser Funktionäre fordern jetzt eine Willkommenskultur für Flüchtlingsströme, die von ihrer eigenen Politik einst mit ausgelöst wurden.
Ägypter stehen hierzulande offenbar nicht bei den Einwanderungsbehörden Schlange. Ägypten, als volkreichstes arabisches Land, funktioniert, wenngleich als Militärdiktatur, also mit jener Staatsform, wie sie im arabischen Raum seit dem Ende kolonialen Herrschaft durchweg verbreitet und gewissermaßen erprobt war. Der Preis vermeintlicher Freiheit wäre für die Ägypter die perverse Theokratie der Moslembrüder gewesen. Hätten die es mit ihrem Anführer Mohammed Mursi geschafft, an der Macht zu bleiben, ohne von General Abd al-Fattah as Sisi im letzten Moment weggeputscht zu werden, warteten heute in den deutschen Flüchtlingszeltstädten vermutlich vor allem Ägypter. Stattdessen konnten sie das Land stabilisieren und jüngst eine neue Spur des Suez-Kanals eröffnen. Ägypten kommt zurecht, gerade weil es nicht demokratisch verfaßt ist.
Assad stigmatisiert der Westen, der noch vor kurzem Verträge mit ihm schloß, mittlerweile als Monster. Politik gestaltet sich aber komplexer als ein vermeintlich humanistisches Weltbild sie gerade abzubilden versucht, indem Assad allein mit Faßbomben und der dümmlichen Verkürzung, er führe „Krieg gegen das eigene Volk“, assoziiert wird. Ein homogenes „syrische Volk“ gibt es gar nicht, um so mehr aber bewaffnete Interessengruppen und vorzugsweise sunnitische Stammes- und Terrorarmeen, die ihre jeweiligen Ziele gegen das laizistische Regime verfolgen. Die Assad entgegengestellte „Opposition“ ihren Zielen nach wiederum mit Demokratie und Befreiung zu identifizieren, ist mindestens naiv. Man frage in Benghasi und Homs, welche Zeiten und Herrschaft sich die Menschen dort zurückwünschten, gerade weil der Bürgerkrieg zuerst die Zivilisten trifft. Und mit Blick auf politische Tatsachen lese man links nicht nur in Habermas’ Diskursethik nach, sondern in der Staatsphilosophie von Thomas Hobbes bis Carl Schmitt.
Abgesehen von den Hintergründen: Das Anschwellen einer aus sozialen, also aus Armutsgründen anschwellenden Flüchtlingsinvasion wird Deutschland und wird Europa revolutionieren, insbesondere dann, wenn sich Bahn bricht, was bislang einigermaßen kanalisiert werden konnte: Gewalt. Bricht die los – einerlei von welcher Seite ausgehend –, dürfte es mit dem vertrauten Frieden vorbei sein. Das ist so gefährlich wie tragisch. Aber vermutlich wird erst in Ergebnis dessen klare politische Rede möglich sein.