„Wer Identität sagt, hat damit ein Problem aufgeworfen.“ Mit diesen Worten beginnt Alain de Benoist, der französische Philosoph, Publizist und spiritus rector der Nouvelle Droite, seine 2008 beim JF-Verlag erschienene Kulturgeschichte Wir und die anderen. In diesem identitären Grundlagenwerk wird das Problem der Identität – beginnend mit der Fragestellung an sich bis zum Identitätsverlust im Zeichen des Marktes – aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.
Die Frage nach Identität ist eine typisch moderne, da sie sich in traditionellen, vormodernen Gesellschaften aufgrund ihrer Herkunftsbezogenheit in dieser Form nicht stellt. Benoist beschreibt im Schnelldurchlauf die ideengeschichtliche Entwicklung dieser Fragestellung – von der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit. Während Identität in vormodernen Gesellschaften in erster Linie von der Abstammung und der Gruppenzugehörigkeit abgeleitet wird, wandelt sich dieses Verständnis mit dem Beginn der Neuzeit. Das neuzeitlich-liberale Weltbild besitzt ein atomistisches Verständnis der modernen Gesellschaft und bekämpft durch die Abwertung aller kollektiven, dem Individuum vorgelagerten Bindungen die organischen Gemeinschaften. Daraus entwickelt sich eine scharfe Trennung zwischen individueller und kollektiver Identität. „Die gesamte Geschichte der Neuzeit“, so Benoist, „lässt sich als Geschichte der stetigen Landnahme des Selben lesen“. Die Globalisierung bildet den vorläufigen Höhepunkt dieser „Erosion der Unterschiede“.
Im dritten Kapitel Kommunitaristische Kritik oder Kultur als Grundstock des Selben zeigt Benoist die kommunitaristische Kritik am liberalen Individualismus auf. Aus kommunitaristischer Sicht existiert kein abstraktes Individuum außerhalb der Gesellschaft: „Jeder Mensch entstammt einer »konstitutiven Gemeinschaft«, die vor ihm da ist und von der ausgehend seine Wertvorstellungen und Normen entstehen. Jedes menschliche Handeln wird beeinflusst von den bedeutungsmächtigen Kontexten einer ganz bestimmten Geschichte und Kultur.“ In weiterer Folge befasst sich der Autor mit dem Zusammenhang zwischen Identität und Anerkennung („Voraussetzung für gelungene Identität“ – Charles Taylor) und weist darauf hin, dass sich das Problem der Anerkennung durch die Krise des westlichen Nationalstaats verstärken wird.
Identität begreift Alain de Benoist in erster Linie als eine dynamische Realität, die sich ständig im Wandel befindet („Identität ist nicht das, was sich niemals verändert, sondern im Gegenteil das, was uns ermöglicht, uns ständig zu verändern, ohne dass wir jemals aufhörten, wir selber zu sein.“) und niemals eindimensional betrachtet werden kann, weil jeder Mensch verschiedene Zugehörigkeiten besitzt (die auch widersprüchlich sein können). Sie konstruiert und erhält sich in einem erzählenden Akt.
Als Pathologie bezeichnet der Autor den sogenannten Essentialismus. Diese Pathologie der Identität würde das individuelle Ich einfach auf ein kollektives Wir ausweiten, wodurch der Essentialismus klar der Metaphysik der Subjektivität entspringt.
Nach seinen Ausführungen zur postmodernen Ordnung schließt Alain de Benoist seine Kulturgeschichte mit dem Kapitel Identität als Opfer der Entsymbolisierung im Zeichen des Marktes, in dem er den Nihilismus der kapitalistischen Gesellschaft aufzeigt, „insofern als sie mit der Vernichtung des Symbolischen die Welt endgültig entzaubert und somit in der Negierung sämtlicher Bedeutungshorizonte mündet“. Das Ziel der Entsymbolisierung ist die Einebnung aller kulturellen Unterschiede, um die Ausbreitung des Marktes und die ständige Erschließung neuer Absatzgebiete zu forcieren. In der Marktgesellschaft wird Identität gegen Konsum eingetauscht, weshalb nach Benoist „die Hauptursache für die Entfremdung der Identitäten heute wohl im Warenfetischismus zu suchen [ist]“.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Wir und die anderen als der ideale Einstieg in das Thema Identität gelten kann. Auf knapp 120 Seiten bekommt der Leser einen guten Überblick und wichtige Impulse zur identitären Theoriebildung geboten (Die zahlreichen Fußnoten helfen in weiterer Folge bei der Suche nach zusätzlicher Lektüre). Alain de Benoist zeigt auch in diesem Werk, warum er kein typischer Autor der „Rechten“ ist und gerade deshalb zu den interessanten Denkern unserer Zeit gehört.
Das Buch kann hier bestellt werden:
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