Japans Identität seit dem Bakumatsu[1] lässt sich grob wie folgt beschreiben: dass der japanischen Identität das erste Mal eine wahrnehmbare Verfremdung widerfuhr, setzte während der Meiji-Ära[2] durch die erzwungene Öffnung der Amerikaner ein – man ahmte den Kleidungsstil nach, übernahm Anschauungen und Technologie. Diese Verwestlichung erlebte erstmalig ihren Höhepunkt nach der Niederlage des Zweiten Weltkrieges, welche man als Schande empfand und als vermeintliche Inferiorität deutete. Aus Scham gab man seine kulturellen Wurzeln auf und akzeptierte westliche Wertvorstellungen, welche als superior erachtet wurden. Dies führte zu einer Identitätskrise, welche bis heute anhält.
In dieser Zeit hat sich der Japandiskurs als Gegenpart entwickelt, welcher in den achtziger Jahren Konjunktur hatte und bis heute das Bild der Nation prägt. Es ist ein eigenes literarisches Genre, das sich intensiv mit der kulturellen und ethnischen Identität der Japaner befasst und mit wissenschaftlichen Schriften die Einzigartigkeit in psychologischer, historischer, philosophischer, religiöser und sprachlicher Hinsicht herauszuarbeiten versucht. Hierzu zählt auch Yukio Mishimas theoretischer Essay „Verteidigung einer Kultur“, in welchem er konstatiert, dass der Tennō der Urquell der japanischen Kultur sei und wenn man diesen bewahren möchte, müsse man auch den Kaiser schützen.
Infolge dessen kam es in den sechziger Jahren erneut zu einem Wandel des japanischen Selbstbildes. Aufgrund des enormen wirtschaftlichen Wachstums erlangte das Volk wieder Selbstvertrauen und Nationalstolz, sodass sich abermals traditionelle Werte durchsetzten. Der westliche Individualismus wurde abgelehnt, stattdessen stand das Gemeinschaftsgefühl sowie die Rückkehr zu einer vertikalen Gesellschaft und die Orientierung an den unterschiedlichen Kollektiven (Dorfgemeinschaft, Berufszugehörigkeit, etc.) wieder im Vordergrund – ganz im Gegenteil zur Atomisierung wie sie bei den europäischen Völkern der Fall war und ist.
Seit den 80er Jahren werden jedoch vermehrt Stimmen laut, die Japan ermahnen, dass es die Globalisierung nutzen sollte, um sich zu internationalisieren; es solle seine ethnokulturelle Eigenart zugunsten einer westlich-japanischen Hybridkultur aufgeben. Diese Aufforderungen kommen allerdings großtenteils aus dem westlichen Raum – so werfen kulturimperialistische Japanologen, welche die Amerikaniserung vorantreiben wollen, dem Land der aufgehenden Sonne auch heute noch Isolationismus vor. Allerdings zeigte Prof. Dugin die Nezessität für die Emanzipierung Japans aus dem US-amerikanischen Einfluss und die Unterstützung als souveräne Regionalmacht auf, um so die multipolare Welt zu fördern, in welcher Japan eine wichtige Rolle einnimmt.[3]
Anime und Manga – Rückkehr zur Tradition
Mit der postmodernen Otakukultur versuchte man wieder an die prämoderne Edo-Zeit [4] anzuknüpfen – ganz im Sinne des chinesischen Philosophen Konfuzius: „Tradition heißt nicht die Asche bewahren. Tradition heißt die Glut weitertragen.“ Darum werden Manga als kultureller Nachfolger der prämodernen japanischen Edo-Kultur angesehen – dieser Standpunkt wird von renommierten Kritiker wie Toshio Okada und Eiji Ōtsuka vertreten. Der Ansicht Ōtsukas zufolge weisen Manga eine Ähnlichkeit mit dem Kabuki oder dem traditionellen Figurentheater Bunraku auf[5] und der Künstler Takashi Murakami stellte eine Verbindung zwischen dem im 17. Jahrhundert wirkenden Maler Kanō Sansetsu und dem kontemporären Animator Yoshinori Kanada her.[6] In Manga und Anime werden zudem häufig Themen und Motive des Shintōs, die Urreligion Japans, behandelt. Ferner werden traditionelle Rituale wie die Teezeremonie verarbeitet und häufig nationale Symbole wie der Berg Fuji oder Kirschblüten eingebaut.
Ein gutes Exempel für shintoistische Einflüsse und die japanische Ethnizität als Positivum ist der populäre sechzehn Episoden lange Slice of Life-Manga/Anime Kamichu!, welcher viele weitere kulturelle Aspekte Japans thematisiert, so zum Beispiel die Kalligrafie. Außerdem beinhaltet er neurechte, ethnopluralistische Gedanken, in dem Sinne, dass jedes Volk seine eigene Heimat hat. Das Besondere an diesem Anime ist, dass er das erneute Aufkommen des japanischen Patriotismus‘ aufzeigt – so kehrt in einer Folge der Geist des Schlachtschiffs Yamato[7] in seinen Ursprungshafen zurück, welches nach der Bezeichnung für das Ur-Japan benannt wurde. Hier ist durchaus kein Militarismus gemeint, sondern soll das Zurückkehren des Yamato-damashiis (zu deutsch: „Geist der Yamato“) symbolisieren, sprich, die Rückkehr des ursprünglichen reinen Volksgeistes.
Zudem gibt es ein eigenes Genre, das tatsächliche oder fiktive historische Ereignisse zur Handlung hat und sich meist mit dem damaligen Kriegeradel befasst: das Jidaigeki (Historiendrama), welches von einem lang anhaltenden Erfolg gekrönt ist – hierin zeigt sich die starke Sehnsucht der Japaner nach ihrem ethnokulturellen Erbe. Die Geschichten sind in prämodernen Zeiten angesiedelt, vor allem der Sengoku-Zeit (1467-1573) und der darauffolgenden Edo-Zeit (1603-1868). Die meisten Anime und Manga, welche dieser Gattung zuzuordnen sind, zeichnet Maskulinität und Heroentum aus, einhergehend mit Romantisierung des Bushidō, dem Ehrenkodex der Samurai. Es werden japanische Helden und blutige Schlachten wieder in Erinnerung gerufen – von Date Masamune bis zu Sakamoto Ryōma, deren Gegner auch gut und gerne mal Ghule und Geister sein können. Yukio Mishima hegte für dieses Genre ein besonderes Faible, vor allem war er ein großer Bewunderer des Mangakas Hiroshi Hirata, dessen Werke, die durch kunstreiche Kalligrafie glänzen, Mishima von der Art her mit den damals beliebten Papiertheatern „Kamishibai“ verglich.[8]
Allerdings findet sich die Moral des damaliges Kriegeradels und der buddhistische Ethik auch in Werken wieder, wo man es kaum erwartet und die hierzulande trotzallem große Bekanntheit und Beliebtheit erlangt haben – sei es Mila Superstar oder Die tollen Fußballstars. In beiden zeigt sich die Ethik der Tat – im unermüdlichen Eifer, das Streben nach Perfektion, ermutigt durch das Bewundern des gegnerischen Könnens und der Selbstüberwindung. Aus dem Hagakure: „Lebenslange Übung kennt kein Ende; man muß sich nach jedem Tag des Trainings verbessert finden und Vollkommenheit auf seinem gesamten Lebensweg anstreben.“
Hayao Miyazaki, „Meister der Animationskunst“, knüpft in seinen Werken ebenfalls an die japanische Mythologie an. Er hat das bekannte Anime-Studio Ghibli gegründet, benannt nach dem italienischen Flugzeug Caproni Ca.309 Ghibli, das im Zweiten Weltkrieg für Aufklärungszwecke in Nordafrika verwendet wurde. Ghibli ist zudem die italienische Bezeichnung für den Wüstenwind Scirocco. Die Idee dahinter ist laut Miyazakis Aussage, dass ein frischer Wind durch die Anime-Industrie wehe. Das Studio hat viele bekannte Anime, deren Welten Vielfalt statt Einheitlichkeit und Komplexität statt Simplizität auszeichnet, geschaffen wie Prinessin Mononoke, Porco Rosso, Das wandelnde Schloss, die weltweit bekannt sind, obzwar Miyazakis einzige Intention war, Amüsement für japanische Kinder zu schaffen ohne dabei an den globalen Markt zu denken.[9]
Das Besondere daran ist, dass diese Meisterwerke alle noch per Hand gezeichnet sind, Computeranimation kommt in Miyazakis Œuvre so gut wie gar nicht zum Einsatz, worin sich schon seine anti-modernistische Haltung zeigt und welcher er durch folgende Äußerung Nachdruck verlieh: „Das moderne Leben ist eindimensional, oberflächlich und falsch.“[10] In den Studio Ghibli-Produktionen werden häufig traditionelle Gemeinschaften mit modernen Gesellschaften kontrastriert und stehen in einem Konflikt.
Anti-Amerikanismus in Anime und Manga
Die Japaner erinnern sich nur allzu gut an den nuklearen Genozid, den die USA durch ihre Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki verübten, welche bis an die 246000 Menschen das Leben gekostet hat, und die Sichtweise der US-amerikanischen Soldaten, welche Japaner als Untermenschen ansahen. Es gibt Myriaden namhafte Beispiele in denen antiamerikanische Sentiments zum Ausdruck kommen. Unter anderem wird im bereits oben genannten Kamichu! Kritik an dem servilen und hörigen Verhalten gegenüber den USA geübt – vor allem 2005 war dies in der japanischen Öffentlichkeit vielfalch thematisiert, bedingt durch die Entsendung der Selbstverteidigungsstreitkräfte in den Irak auf Geheiß des damaligen Premierministers Jun’ichirō Koizumi.
In dem Anime „Ghost in the Shell: Stand Alone Complex“ wird in der zehnten Episode „Jungle Cruise“ die Stadt von einer Mordserie heimgesucht. Auf grausame Art und Weise werden die Opfer bei vollem Bewusstsein gehäutet. Im Laufe der Geschichte erfährt man, dass die USA die Methode im Krieg gegen die südamerikanische Bevölkerung angewendet hat, um die Gegner einzuschüchtern und den Widerstand zu demoralisieren. Tatsächlich war es im Zweiten Weltkrieg eine gängige Praxis der amerikanischen Soldaten Leichenteile gefallener Japaner als Souvenir mitzunehmen. Der Liberalismus steht dem Nationalsozialismus und Kommunismus in Bezug auf die Inhumanität der Kriegsführung um nichts nach.
Ein weiterer nennenswerter Manga ist „The Silent Service“, welcher sich über 22 Millionen Mal verkaufte und mit dem renommierten Kōdansha-Manga-Preis ausgezeichnet wurde. Mit Hilfe der USA errichtet Japan ein Atom-U-Boot. Während der Jungernfahrt wird es von dem Kapitän Shiro Kaieda gemeutert und als unabhängige Nation „Yamato“ deklariert. Daraufhin drohen die US-Amerikaner ganz Japan zu invadieren, sollten sie nicht das Unterseeboot zurückerhalten. Große Teile der Bewunderer des Mangas waren Angehörige der Selbstverteidigungsstreitkräfte. Von vielen Patrioten wurde der Macher Kaiji Kawaguchi als neuer Yukio Mishima wahrgenommen und geschätzt. Im Politischen wird der antiamerikanische Antiimperialismus von der Neuen Rechten als auch Neuen Linken vertreten – und ist somit der Themenkomplex, welcher die NR hauptsächlich von der traditionellen Rechten, die stark pro-amerikanisch positioniert ist, unterscheidet.
Dieser Beitrag vermochte hoffentlich, einen, wenn zwar oberflächlichen – zumal alles andere den Rahmen sprengen würde – so aber doch für den ein oder anderen interessanten Einblick in den japanischen Kulturkreis mit speziellem Bezug auf Anime und Manga, wofür Japan in Europa einen angesehenen Ruf genießt, gewährt zu haben. Anhand dieser Populärkultur merkt man die tiefe Verwurzelung des japanischen Volkes mit ihren Traditionen, als auch ihren Kampf um das Bewahren ihrer Eigentümlichkeit und die Liebe zu ihrem Land – welche bei uns vor allem im traditionellen Heimatfilm zum Ausdruck kam.
[1] Bakumatsu ist die Bezeichnung der letzten Phase der Edo-Zeit. Es beginnt mit dem Eintreffen der „Schwarzen Schiffe“ im Jahre 1853, welche die Öffnung Japans erzwangen.
[2] Die Meiji-Ära (1868-1912) folgte auf die Edo-Zeit. Diese Epoche zeichnet den Herrschaftswechsel vom Shōgun hin zum Tennō aus und den Wandel von einem Feudalstaat zu einer modernisierten Großmacht. Es war der Beginn des Japanischen Kaiserreiches, das bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges währte.
[3] Natella Speranskaya, Eurasia and Europe: Dialogue of “Big Spaces”http://www.4pt.su/sk/node/655
[4] Die Edo-Zeit (1603-1868) ist die Zeit, in welcher der Shōgun an der Macht war. Sie ist nach der Stadt Edo (heute als Tokio bekannt) benannt, wo das Tokugawa-Shōgunat seinen Herrschaftssitz hatte.
[5] Eiji Ōtsuka, World and Variation
[6] Takashi Murakami, Superflat
[7] Die Yamato war ein Schlachtschiff, das im Jahre 1941 fertiggestellt wurde und das im Pazifikkrieg zum Einsatz kam. 1945 wurde es durch US-amerikanische Trägerflugzeuge versenkt.
[8] Frederik L. Schodt, Dreamland Japan: Writings on Modern Manga
[9] http://www.angelfire.com/anime/NVOW/Interview1.html
[10] http://web.archive.org/web/20060524092154/http://www.newyorker.com/online/content/?050117on_onlineonly01